Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 30 / 41
Foto:

Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL

Markus Deggerich

Wenn Männer krank sind Heul doch!

Markus Deggerich
Ein Essay von Markus Deggerich
Warum d��rfen Männer nicht krank und schwach sein? Es wird Zeit für ein gesünderes Verständnis von Maskulinität.
aus DER SPIEGEL 54/2024

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.

Man(n) sollte Reflexionen über Männergesundheit nicht mehr mit Zitaten aus dem Lied »Männer« von Herbert Grönemeyer beginnen. Nicht weil Zeilen wie »Männer weinen heimlich« als Hintergrundmusik für Gesundheitsratgeber totgenudelt sind. Sie wirken nur mittlerweile unzureichend, fast zynisch: weil sich eben fast nichts ändert. Seit Generationen.

Aus: SPIEGEL SPEZIAL Medizin

Gesundheit für alle

Eine Zeitenwende: Die geschlechtsspezifische Medizin zeichnet ein neues Bild von Frau und Mann – und soll dazu führen, dass beide Geschlechter besser erforscht, therapiert und geheilt werden können. Noch sind die Erkenntnisse nicht überall im Behandlungsalltag angekommen. Was muss geschehen, damit alle Patientinnen und Patienten davon profitieren?

Lesen Sie die Titelgeschichte – und weitere Berichte, Analysen und Reportagen rund um die Frage, wie Frauen und Männer besser gesundheitlich versorgt werden können. Die Ausgabe von SPIEGEL SPEZIAL schildert vorbildhafte Ansätze aus aller Welt, aber auch eklatante Notstände und gesundheitspolitische Fragen, die dringend geklärt werden müssen.

Zur Ausgabe

Das Lied ist ziemlich genau 40 Jahre alt, ich habe es im Alter von 15 zum ersten Mal gehört, Grönemeyers Album »Bochum« vermittelte dem Mann in mir viele männliche Lösungsstrategien, vom Saufen (»Alkohol«) bis zur Depression im Liebeskummer (»Flugzeuge im Bauch«) und dem Stolz auf selbstzerstörerische, aber identitätsstiftende Arbeit im Bergbau (»Bochum«). Der Erfolg von »Männer« aber hat vor allem mit der selbstironischen Attitüde zu tun, dem Spiel mit allen Klischees. Genial. Aber eben auch manifestierend. »Außen hart und innen ganz weich?« Zwinker, zwinker, dazu kann man tanzen, das darf man mitsingen, aber versucht mal, als Mann darüber zu reden. Als ich in einer Redaktionskonferenz vorgeschlagen habe, ich würde gern ein ganzes Heft nur über Männergesundheit machen, sagte eine Kollegin: »Aber ohne mich.«

Man(n) hört dann aus gespitztem Mund, leicht spöttisch: Geht’s hier wirklich um den kranken Mann – oder nur um gekränkte Männlichkeit?

Mal davon abgesehen, dass ich keinen Bock habe, mit meiner ohnehin durchschnittlich um fünf Jahre geringeren Lebenserwartung für Jahrtausende des Patriarchats nachzubezahlen, möchte ich dann blöd zurückfragen: Ist das nicht einfach egal, warum oder worunter ich leide, ob Krankheit oder Kränkung? Kannst du mich bitte einfach sehen? Wurdest du nicht selbst viel zu lange als »hysterisch« diffamiert und ruhiggestellt, weil niemand deine Not ernst nahm?

Männer brauchen sicher nicht über Unterdrückung zu klagen. Aber sie haben jedes Recht, darüber zu klagen, dass sie in einer Atmosphäre leben, in der sie ihre Krankheiten lieber unterdrücken, statt sie anzugehen. Der »Männerschnupfen« ist ein viel belächeltes Phänomen. Dabei wird unterschlagen, dass Männer tatsächlich ein anderes, schwächeres Immunsystem haben und länger brauchen, um wieder fit zu sein. Es wird ihnen aber nicht erlaubt.

Auf mich wirkt es schon lange befremdlich und mindestens mikroaggressiv, dass männliches Leben in der Wahrnehmung weniger wert ist. Es wird diskriminiert durch die Überbetonung oder Alleinstellung von Frauen und Kindern, etwa in der Krisen- und Kriegsberichterstattung. Wenn ständig betont wird, dass unter Opfern »viele Frauen und Kinder« seien, frage ich mich irgendwann: Ja, das ist fürchterlich, aber ist denn mein Leben als Mann weniger wert? Ist mein Tod »logisch« und hinnehmbar, mein Ableben schon eingepreist?

Klar richten wir uns selbst zugrunde, mit der Verweigerung von Vorsorge bis zur Flucht in rotes Fleisch und Rotwein. Aber warum?

Weil wir nicht frei sind. Es kommt alles wieder, was nicht bis zum Ende durchlitten und gelöst wird. Ich hatte in meinem Leben schon mit ziemlich vielen Krankheiten zu kämpfen. Und ich habe sehr schmerzhaft lernen müssen, dass sie immer auch mit meinem Kopf zu tun hatten. Mit meinen psychischen Prägungen, meinen Kämpfen und der aktuellen Stellung im Leben. Von Krebs über Herz, vom Rücken durch die Knie bis zum Hoden: Es ist immer der ganze Mann krank.

Es unterschätze niemand die Wirkungsmacht tradierter Klischees. Deutsche Jungen weinen nicht. Auch dieser Sound klingt wie »Männer« noch über Generationen weiter. Ich saß einst mit meinem Vater im Kino, der Verfilmung des Wunders von Bern. Eine als Fußballfilm getarnte Erzählung über zerstörte Männer und Väter nach dem Krieg. In dem Film fällt der Satz »Deutsche Jungen weinen nicht«, mein Vater schluchzte laut auf im dunklen Saal und weinte, wollte es aber verbergen. Ich durfte – maximal – seine Hand halten, aber später nicht darüber reden.

Wenn heute mein Sechsjähriger weinend vom Fußballplatz rennt, dann kostet es mich immer noch Kraft, nicht reflexhaft zu sagen: »Hey, du musst doch nicht weinen.« Er hat doch jedes Recht dazu, und er hat jedes Recht, dass ich das ernst nehme und sehe und nicht abwerte. Warum fällt uns das so schwer? Warum ist »Heul doch!« eine provokative Phrase, die im Streit missbraucht wird? Warum denn nicht heulen: Es kann so befreiend sein.

Vor allem die ersten Jahre sind für uns Jungs ungesund, wir verbringen sie im Matriarchat der Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen. Aktive Jungen stehen als Zappelphilipp unter ADHS-Verdacht, introvertierte Jungen werden direkt als zu still, zu ernst, vermutlich also depressiv pathologisiert: und ihre Stärke zur Schwäche umdefiniert. Jungs erhalten sehr viel seltener Empfehlungen für höhere Schulen. Jungs lernen aber anders, gerade in jungen Jahren.

Ich kann das Testosteron nicht gedanklich weggendern, nur weil ich gern eine andere Welt hätte.

Und was Hänschen in dieser Zeit vermittelt bekommt, lebt Hans später aus: Vorsorge ist für Pussies, Stärke zählt, Zweifel am eigenen Ich machst du besser nicht transparent. Es gibt ja männliche Lösungen: Alkohol, Aggression, Aufpumpen, Aufstieg. Oder Ausstieg, durch Depression oder gar Suizid.

In diesem Jahr gibt Grönemeyer ein paar Jubiläumskonzerte zum 40. Jahrestag des »Bochum«-Albums. Er wird »Männer« singen, wie immer, wie schon so lange. Ich werde da sein, mit meinem Sechsjährigen. Ich habe uns T-Shirts bestellt, von einem Mann aus Großbritannien, der als 17-Jähriger dort ein Modelabel gründete, mit dem er die Welt der Männergesundheit verändern will. Auf unseren Shirts wird stehen: »Boys get sad too«.

Teilen Sie uns Ihre Meinung mit!
Zur Ausgabe
Artikel 30 / 41