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Henrik Müller

Regierungswechsel in London Wie man (k)einen Staat saniert

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Machtwechsel in der Downing Street: Großbritannien hat viele Jahre Sparkurs hinter sich. Genützt hat es wenig. Was können andere Länder daraus lernen?
Straßenszene in Manchester: Keine Entspannung bei den Staatsfinanzen

Straßenszene in Manchester: Keine Entspannung bei den Staatsfinanzen

Foto:

Pond5 Images / IMAGO

Wenn man dem Schatzkanzler so zuhörte, konnte man den Eindruck gewinnen, er predige eine Art fiskalisches Fegefeuer – staatliche Sparpolitik als Akt der nationalen Reinigung. Dürre Jahre kämen auf das Land zu, tönte er. Die Staatskassen seien leer, mehr als einen „Nothaushalt“ könne man sich nicht mehr leisten. Jede Menge Zumutungen, als müsste die Nation für begangene Verfehlungen büßen.

Ziemlich genau 14 Jahre ist das her. Der britische Schatzkanzler, anderswo schlicht Finanzminister genannt, hieß George Osborne (53), ein blasser Konservativer mit elitärem Familienhintergrund und großen Ambitionen. In seiner ersten Haushaltsrede  sagte er dies, als habe sich die Nation viel zu lange versündigt, weshalb sie nun zur Selbstkasteiung schreiten musste. Auf Jahre sei „Austerity“ angezeigt.

Osborne und sein Premier David Cameron (57) unternahmen den Versuch, die Staatsfinanzen durch eisernes Sparen in den Griff zu bekommen. Das war ziemlich radikal: Es ging nicht nur um sachtes Umsteuern, sondern tatsächlich um harte Kürzungen bei einigen Haushaltsposten. Dieser Ansatz ist letztlich gescheitert, und zwar gleich auf mehreren Ebenen – politisch, ökonomisch, gesellschaftlich.

Ende eines Experiments

Während die konservative Ära in Großbritannien abgeräumt wird und nach einem großen Wahlsieg eine neue Labour-Regierung übernimmt, lohnt es sich, das britische Experiment genauer zu untersuchen. Denn auch anderswo sind inzwischen die Staatshaushalte stark unter Druck. Die Schuldenlasten sind erdrückend hoch, auch wegen steigender Zinsen, alternder Bevölkerungen und wachsender Sozialausgaben.

In Frankreich wird die kommende Regierung zuallererst daran gemessen werden, ob sie es hinbekommt, den Staatshaushalt stabil zu halten. (Achten Sie ab Montag auf die Folgen der Wahlen zur Nationalversammlung.) Selbst im moderat verschuldeten Deutschland geben sich konservativ geneigte Kreisen gern dem Glauben hin, Kürzungen im Sozialbudget eröffneten Spielräume, aus denen sich dringend erforderliche Militärausgaben bezahlen ließen (bei gleichzeitigem Festhalten an der Schuldenbremse). Das Gezerre ums Budget für 2025 wird uns den Herbst über intensiv begleiten; bislang liegt nur ein Haushaltsentwurf der Regierung vor.

Das britische Beispiel zeigt: Man kann ein Land nicht so einfach gesundsparen. Was nicht gleichbedeutend ist mit finanzpolitischer Passivität. Aber ohne eine umfassende ökonomische Strategie lässt sich ein Schuldenberg letztlich nicht abtragen.

Der Schock von 2008/09 saß tief

In Großbritannien war ganz deutlich, dass die konservativen Tories nach ihrer Regierungsübernahme 2010 letztlich kaum eine Vorstellung von Britanniens Weiterentwicklung hatten. Es gab keine Vision, keine Strategie, keinen Plan – außer irgendwie die Schulden in den Griff zu bekommen.

Der historischen Gerechtigkeit halber muss man sagen: Bei der Amtsübernahme der Konservativen war die Haushaltslage tatsächlich dramatisch. Unmittelbar nach der Finanzkrise von 2008/09, die am Banken- und Börsenplatz London besonders gewütet hatte, war der Staatshaushalt dramatisch ins Minus gerutscht.

Um überdehnte Banken zu retten und eine heftige Rezession abzufedern, hatte die Labour-Vorgängerregierung das Budget tief ins Defizit rutschen lassen. 2009 lag die Nettoneuverschuldung bei mehr als 10 Prozent des Sozialprodukts; 2010 waren es immer noch 9 Prozent. Die angehäufte Schuldenlast hatte sich binnen weniger Jahre verdoppelt. Aus einem finanziell gesunden Staatswesen mit niedrigen Verbindlichkeiten war binnen kurzem ein hochverschuldetes Land geworden. Geschockt von diesem Befund – daher Osbornes Wort vom „Nothaushalt“ („Emergency Budget“) – ordneten die Tories ihr Regierungshandeln dem Austeritäts-Edikt unter.

In den folgenden Jahren gingen bei schwachem Wachstum zwar die Defizite zurück, blieben aber gemessen an deutschen Werten hoch. Die Schuldenquote stieg weiter. Erst Mitte der 2010er Jahre stabilisierten sich die Werte; die aufgelaufenen Verbindlichkeiten betrugen damals 88 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wie der Internationale Währungsfonds vorrechnete.

Doch dann kam der nächste Schock: In ihrer zweiten Amtszeit ging die Cameron-Osborne-Truppe das Wagnis einer Volksabstimmung über die weitere EU-Mitgliedschaft ein – und verlor. Der Brexit war das Gegenteil eines Wachstumsprogramms. Vielmehr stellte der EU-Ausstieg ein fundamentales Hindernis für die weitere Entwicklung dar. Jahrelange Unsicherheit über die Details des künftigen EU-UK-Verhältnisses sowie zwischenzeitliches Regierungschaos wirkten als massive Investitionsbremsen.

Boris Johnson und andere Schocker

Einer OECD-Analyse  zufolge bremsten die Tories in den 2010er-Jahren bei allen möglichen Ausgabenkategorien: Arbeitsmarktpolitik, Wohnungsbau, Umweltschutz, Bildung, öffentliche Sicherheit, Verteidigung, Freizeiteinrichtungen. Bei der Gesundheitsversorgung und beim öffentlichen Transport hielten sie die Ausgaben in Relation zum BIP in etwa konstant. Die staatliche Investitionsquote sank weit unter den Durchschnitt der Vergleichsländer. Nur bei Wissenschaft und Forschung gaben die Konservativen merklich mehr aus.

Erst als Boris Johnson (60) 2019 die Regierungsgeschäfte übernahm, machte er Schluss mit Austerity. Er nahm die Unzufriedenheit im Land auf. Da waren die Zinsen extrem niedrig. Es wirkte wie eine finanzielle Befreiung. Unter den Slogans „Leveling up“ und „Build Back Better“ sollten strukturschwache Gebiete im Norden den Anschluss an den prosperierenden Süden finden und öffentliche Einrichtungen erneuert werden. Dann kam Corona und allerlei Skandale um den Premier, dann der Ukraine-Krieg und der Gaspreis-Schock – die Schulden stiegen jedes Mal weiter.

Der Staat spart genau da, wo es den Bürgern wichtig ist

Heute bröckelt die Infrastruktur. Das Militär sollte schlagkräftiger sein. Und das Land ist von großen wirtschaftlichen Unterschieden durchzogen. Alles Probleme übrigens, mit denen auch Deutschland zu kämpfen hat. Eine Mehrheit der Briten ist mit den öffentlichen Leistungen unzufrieden. In Deutschland sind immerhin noch 58 Prozent mit der Qualität der staatlichen Services einverstanden, wie aus der aktuellen Eurobarometer-Umfrage hervorgeht – trotz auch hierzulande teils dürftiger Infrastruktur.

In Großbritannien fehlt Geld genau da, wo es die Bürger besonders direkt erleben. Die Sparbemühungen der Austerity-Jahre haben vielen Kommunen dauerhaft Zuschüsse aus dem Londoner Zentralhaushalt entzogen. Auch das staatliche Gesundheitssystem wurde auf Diät gesetzt.

Die Folgen sind sicht- und spürbar: Vergammelte Innenstädte, schlecht ausgestattete Krankenhäuser, teils lange Wartezeiten bei Operationen – pro 1000 Einwohner stehen nur 2,4 Krankenhausbetten zur Verfügung (in Deutschland sind es etwa dreimal so viele). Computertumorgrafen und andere bildgebende Geräte sind rar, entsprechend werden auch entsprechende Untersuchungen nur selten vorgenommen, wie internationale Vergleichsstatistiken zeigen . Die Sterblichkeit nach Schlaganfällen ist im Vergleich zu anderen westlichen Ländern hoch. Doppelt so viele Frauen sterben im Zuge einer Geburt wie in Deutschland.

Beim NHS wirken sich die Austerity-Jahre in einem Bereich aus, auf den Menschen gerade in existenziellen Notlagen angewiesen sind. Der Zustand des Gesundheitssystems ist ein steter Quell von Frust, Ärger und Angst – Faktoren, die dazu beigetragen haben, die Tories nach quälend langen und teils chaotischen Regierungsjahren abzuwählen.

Und doch: Insgesamt hat es in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten real gar keine Einsparungen im britischen Gesundheitssystem gegeben, sondern nur einen geringeren Anstieg als in anderen Ländern. Was allerdings bei einer (durch Zuwanderung) wachsenden und zugleich alternden Gesellschaft wie Sparmaßnahmen wirkt – politisch und gesellschaftlich eine toxische Mischung.

Ein Anfall von Panik

Fatalerweise hat all die finanzpolitische Zurückhaltung letztlich die Staatsfinanzen nicht nachhaltig entspannt. Die Schuldenquote liegt beharrlich über 100 Prozent. Nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds  wird sie in den kommenden fünf Jahren weiter steigen.

Der Hauptgrund liegt in der schwach wachsenden Wirtschaft. Die Produktivität hat seit der Finanzkrise von 2008 kaum noch zugelegt. Der Brexit und die jahrelange innenpolitische Orientierungslosigkeit dämpften die Dynamik zusätzlich. Entsprechend kann die Wirtschaft nicht aus den Schulden herauswachsen.

Wie eng die Bewegungsspielräume für britische Regierungen inzwischen sind, hat die Kurzzeitfinanzkrise vom Herbst 2022 gezeigt. Die damalige konservative Premierministerin Liz Truss (48) hatte versucht, durch schuldenfinanzierte Steuersenkungen die private Wirtschaft zu Investitionen anzuregen, um endlich aus dem Wachstumsloch herauszukommen – und scheiterte kläglich. Nach einem Anfall von Panik an Finanzmärkten verlor sie ihr Amt, nach nicht mal zwei Monaten.

Small Change

Es sind diese fiskalischen Begrenzungen, die auch die neue Labour-Regierung (Slogan: „Change begins“) beachten muss. Was sie tun kann, sind insbesondere Dinge, die unmittelbar kaum Geld kosten: effizientere Strukturen in der öffentlichen Verwaltung einziehen; die ökonomischen Anreizwirkungen von Steuern und Sozialtransfers verbessern – sowie, nicht zuletzt, Verlässlichkeit ausstrahlen, um die grassierende Unsicherheit zu bekämpfen. (All das gehört übrigens auch zu den Standardratschlägen an die Regierenden in Berlin, Paris und anderswo.) Den Briten würde man zudem eine Wiederannäherung an die EU und unseren Binnenmarkt wünschen. All das hätte das Potenzial, das Wirtschaftswachstum nachhaltig zu steigern.

In akuten Notsituationen mögen „Nothaushalte“ ihre zwingende Berechtigung haben. Aber sie ersetzen keine langfristige Wachstumsstrategie.

Die wichtigsten Wirtschaftsthemen der bevorstehenden Woche

Montag

Wiesbaden – De-Globalisierung – Das Statistisches Bundesamt legt neue Zahlen zum deutschen Export vor.

Asunción – Markt des Südens – Gipfeltreffen des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur. Die beiden größten Mitgliedstaaten Brasilien und Argentinien streiten.

Dienstag

Washington – Am Ende des Westens – Nato-Gipfel zum 75. Jubiläum des Verteidigungsbündnisses (bis Donnerstag). Erschütternd: Der Präsident der Vormacht USA gilt als nur noch bedingt amtstauglich.

London – Order! Order! –Erste Sitzung des britischen Unterhauses nach den Neuwahlen. Unter anderem mit Wahl des Parlamentspräsidenten und der Vereidigung der Minister.

Mittwoch

Peking – Pazifische Preisfragen – Chinas Statistikamt veröffentlicht neue Zahlen zur Entwicklung der Verbraucherpreise. Seit Monaten schrammt China am Rand der Deflation (sinkendes Preisniveau) entlang.

Donnerstag

Wiesbaden – Verdammt beharrlich – Das Statistische Bundesamt gibt Details zur Inflationsrate im Juni bekannt. Erste Veröffentlichungen hatten einen Preisanstieg von 2,2 Prozent gegenüber Vorjahresmonat gezeigt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass lohnsensible Dienstleistungspreise ungebrochen ansteigen.

WashingtonSie wetten wieder – Veröffentlichung der US-Inflationsrate für den Monat Juni. Zuletzt haben die Finanzmärkte wieder auf Zinssenkungen durch die Fed gewettet, wie schon seit vielen Monaten. Jetzt gehen viele davon aus, dass im September das Geld billiger wird. Eine gewagte Wette, von der ich abraten würde.

Freitag

Berlin – Gadgets, die niemand braucht? – Nun startet Apple auch in Deutschland den Verkauf der Computerbrille Vision Pro.

Peking – Fragmentierung – Chinas Zoll veröffentlicht Außenhandelszahlen für Juni. Geopolitische Spannungen wirken sich zunehmend auf die Handelsvolumina aus.

New York etc. – Bankenbilanz – Eine Reihe US-Großbanken legen Quartalszahlen vor – Citigroup, J.P. Morgan Chase, Wells Fargo, Bank of New York Mellon.