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Für Kinder erklärt Wie das Grundgesetz entstanden ist

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz beschlossen. Wie es dazu kam, dass das Werk nicht Verfassung heißt und was uns dieser Text heute noch sagt, erklären wir hier.
Von Marco Wedig aus Dein SPIEGEL 5/2024

Es ist kurz vor Mitternacht, als die Frauen und Männer, die das Grundgesetz erarbeitet haben, ihre Debatten beenden. Um 23.55 Uhr am 8. Mai 1949 stimmen sie ab: 53 sind dafür, 12 dagegen – das Grundgesetz ist beschlossen. »Dem Rats­präsidenten Konrad Adenauer war es wichtig, dass die Abstimmung noch an diesem Tag stattfindet«, erklärt der Historiker Michael F. Feldkamp. »Er wollte deutlich machen: Jetzt kommt eine neue, aufstrebende Bundesrepublik Deutschland.«

Auf den Tag genau vier Jahre zu­vor war Deutschland von der Diktatur Adolf Hitlers befreit worden. Der Krieg war vorbei – zumindest in diesem Teil der Welt. Europa lag in Trümmern, und Deutschland wurde in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Das Sagen hatten die Siegermächte: die Sowjetunion im Osten, die USA im Süden, Frankreich im Südwesten, Großbritannien im Nordwesten. Die drei letztgenannten wurden auch die Westalliierten genannt.

»Sie wollten Deutschland zunehmend an der Politik beteiligen. Doch die Sowjetunion wollte da nicht mitmachen«, sagt Feldkamp. »Als die Westalliierten die Deutsche Mark als Zahlungsmittel einführten, begann die Sowjetunion mit der Berlin-Blockade.« Dazu muss man wissen: Auch Berlin war geteilt, und zwar in drei West-Teile und einen Ost-Teil. »Die Sowjetunion blockierte Straßen und Bahnstrecken in die West-Teile, auch die Strom- und Trinkwasserversorgung wurde gekappt.«

75 Jahre Bundesrepublik

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn feierlich das Grundgesetz verkündet. Es ist der Gründungsmoment der Bundesrepublik Deutschland. Der SPIEGEL widmet ihrem 75. Geburtstag einen Schwerpunkt. Unsere Autorinnen und Autoren blicken zurück – und in die Zukunft.

Auf der Themenseite finden Sie alle Analysen, Interviews und Reportagen zum Jubiläum.

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Die Welt spaltete sich zunehmend in zwei Blöcke – und mittendrin: Deutschland. Nach der Berlin-Blockade wollten die Westalliierten den Menschen in den von ihnen kontrollierten Besatzungszonen die Möglichkeit geben, einen Teilstaat zu gründen. Dafür sollten sie eine Verfassung erarbeiten. In so einem Gesetzestext stehen die wichtigsten Regeln für das politische System eines Staates und das seiner Bewohner.

Doch die elf Ministerpräsidenten in den Besatzungszonen waren nicht überzeugt. Sie meinten, eine Verfassung könne sich nur das gesamte deutsche Volk geben. Die Menschen in der sowjetischen Besatzungszone konnten aber nicht mitbestimmen. Der neue Gesetzestext sollte nur bis zur Wiedervereinigung gelten, deswegen vermied man damals das Wort Verfassung und sprach vom Grundgesetz.

Das Grundgesetz ist der vielleicht wichtigste Text in Deutschland. Schön zu lesen ist er zwar nicht. Altmodische und komplizierte Wörter wie Fernmeldegeheimnis oder Gemeindeverkehrsfinanzierung stehen darin. Aber eben auch klare und wichtige Sätze wie dieser: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Beschlossen wurde der Text vom Parlamentarischen Rat, der von Konrad Adenauer geleitet wurde. Im September 1949 wurde er zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt.

Das Grundgesetz ist der vielleicht wichtigste Text in Deutschland. Schön zu lesen ist er zwar nicht. Altmodische und komplizierte Wörter wie Fernmeldegeheimnis oder Gemeindeverkehrsfinanzierung stehen darin. Aber eben auch klare und wichtige Sätze wie dieser: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Beschlossen wurde der Text vom Parlamentarischen Rat, der von Konrad Adenauer geleitet wurde. Im September 1949 wurde er zum ersten deutschen Bundeskanzler gewählt.

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Die Vorarbeit wurde im Schloss Herrenchiemsee gemacht. Dort trafen sich Experten, um sich einen Entwurf für das Grundgesetz zu überlegen. Dieser wurde dann von den 65 Politikerinnen und Politikern im Parlamentarischen Rat besprochen und fertig ausgearbeitet. Ganz wichtig war den Vätern und Müttern des Grundgesetzes, dass Deutschland nie wieder eine Diktatur werden soll. Nie wieder sollte eine Person allein über die Bürgerinnen und Bürger herrschen.

Vor und während des Zweiten Weltkriegs regierten Adolf Hitler und die Nationalsozialisten. Sie und ihre Anhänger schafften die Demokratie ab, verfolgten politische Gegner und töteten rund sechs Millionen Juden. Für die Nazis zählte nicht jedes Leben gleich viel. Menschen mit Behinderung etwa galten als »unwertes Leben«. Viele wurden ausgeschlossen, misshandelt, ermordet. So etwas sollte nie wieder vorkommen. Deswegen steht ganz zu Anfang im Grundgesetz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Artikel 20a des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Immer öfter wird vor Gerichten geklagt, dass der Staat mehr dafür tun müsse – auch damit Flutkatastrophen wie im Ahrtal nicht öfter vorkommen.

Artikel 20a des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Immer öfter wird vor Gerichten geklagt, dass der Staat mehr dafür tun müsse – auch damit Flutkatastrophen wie im Ahrtal nicht öfter vorkommen.

Foto: Boris Roessler / dpa
»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Das steht als Lehre aus der Nazizeit im Grundgesetz. Damals mussten viele Menschen aus Deutschland fliehen. Mit der Zeit wurde dieses Grundrecht immer weiter verwässert.

»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Das steht als Lehre aus der Nazizeit im Grundgesetz. Damals mussten viele Menschen aus Deutschland fliehen. Mit der Zeit wurde dieses Grundrecht immer weiter verwässert.

Foto: Peter Kneffel / dpa
Von der Lokführerin bis zum Erzieher – in den vergangenen Wochen und Monaten wurde in Deutschland oft gestreikt. Das Recht auf Streik, das im Grundgesetz steht, schützt Angestellte vor der Gefahr, von ihren Chefs ausgenutzt zu werden.

Von der Lokführerin bis zum Erzieher – in den vergangenen Wochen und Monaten wurde in Deutschland oft gestreikt. Das Recht auf Streik, das im Grundgesetz steht, schützt Angestellte vor der Gefahr, von ihren Chefs ausgenutzt zu werden.

Foto: Lando Hass / dpa / picture alliance
Zum Schutz der Gesundheit wurden während der Coronapandemie viele Grundrechte eingeschränkt, etwa die Versammlungsfreiheit. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer »Zumutung für die Demokratie«.

Zum Schutz der Gesundheit wurden während der Coronapandemie viele Grundrechte eingeschränkt, etwa die Versammlungsfreiheit. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel sprach von einer »Zumutung für die Demokratie«.

Foto: Bodo Schackow / dpa / picture alliance

Neben den Grundrechten, die ein Leben in Freiheit und Gleichheit garantieren sollen, wurden die politischen Spielregeln festgelegt. Dafür schaute man sich die Verfassung der Weimarer Republik genauer an. So wird der demokratische deutsche Staat genannt, der 1919 in der Stadt Weimar gegründet worden war und den die Nationalsozialisten beendet hatten.

Bevor die Nazis an die Macht kamen, gab es in der Weimarer Republik einige Regierungskrisen. »Das hatte mit der mächtigen Rolle des Reichspräsidenten zu tun. Dieser ernannte den Kanzler, der sich dann im Parlament eine stabile Mehrheit suchen musste. Daran sind viele gescheitert. Der Reichstag wurde öfter aufgelöst, und es kam zu Neuwahlen«, erklärt Michael F. Feldkamp. All das begünstigte den Aufstieg Adolf Hitlers.

Als Lehre daraus überlegte sich der Parlamentarische Rat, die Macht des Bundespräsidenten zu begrenzen und die Rolle des Kanzlers zu stärken. Dieser kann vom Parlament nur abgewählt werden, wenn gleichzeitig ein neuer Regierungschef gewählt wird.

Grundrechte gab es in der DDR nur auf dem Papier. Wahlen wurden gefälscht, kritische Meinungen unterdrückt. Die Freude über die Wiedervereinigung war groß. Mit dem Ende der DDR wurde entschieden, dass das Grundgesetz auch in den fünf neuen ostdeutschen Bundesländern gelten soll.

Grundrechte gab es in der DDR nur auf dem Papier. Wahlen wurden gefälscht, kritische Meinungen unterdrückt. Die Freude über die Wiedervereinigung war groß. Mit dem Ende der DDR wurde entschieden, dass das Grundgesetz auch in den fünf neuen ostdeutschen Bundesländern gelten soll.

Foto: Wolfgang Kumm / dpa / picture alliance
Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe achten darauf, dass andere Gesetze mit dem Grundgesetz im Einklang stehen. Momentan wird darüber diskutiert, das Gericht besser zu schützen. In Polen oder Ungarn konnte man beobachten, wie Verfassungsgerichte unterwandert wurden. Das will man in Deutschland verhindern.

Die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe achten darauf, dass andere Gesetze mit dem Grundgesetz im Einklang stehen. Momentan wird darüber diskutiert, das Gericht besser zu schützen. In Polen oder Ungarn konnte man beobachten, wie Verfassungsgerichte unterwandert wurden. Das will man in Deutschland verhindern.

Foto: Uli Deck / dpa / picture alliance

Die Westalliierten wollten, dass Westdeutschland wieder ein föderaler Staat wird. Das heißt, dass es verschiedene Bundesländer gibt und dass diese maßgeblich mitbestimmen dürfen. Nicht alle Politiker fanden das gut. Am Ende einigte man sich auf eine Mischform: Die Bundesländer haben bei den meisten Themen das Sagen. Sie können zum Beispiel bestimmen, was in den Schulen gelehrt wird. Und wenn in Deutschland vom Bundestag neue Gesetze gemacht werden, dürfen die Bundesländer mitreden.

Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren nur vier Frauen: Helene Wessel, Helene Weber, Friederike Nadig und Elisabeth Selbert (von links).

Unter den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rates waren nur vier Frauen: Helene Wessel, Helene Weber, Friederike Nadig und Elisabeth Selbert (von links).

Foto: Erna Wagner-Hehmke / Haus der Geschichte / dpa
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Vor dem Interview mit dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue durften Clara und Bruno, beide 13, sich ins Goldene Buch eintragen – so wie die anderen Gäste, die hier empfangen werden, etwa der britische König Charles III. und Königin Camilla oder der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das Gespräch fand im Amtszimmer statt, das extra für solche Termine gedacht ist. Im Anschluss zeigte Frank-Walter Steinmeier Clara und Bruno noch sein »richtiges« Arbeitszimmer. In dem gibt es einen Schreibtisch, auf dem viele Unterlagen zu sehen waren, und ein mongolisches Schwert. Eines der Dinge, die Bundespräsi­denten geschenkt bekommen. Clara und Bruno bekamen übrigens am Ende ihres Besuchs auch ein Geschenk: einen richtig guten Bellevue-Becher.


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Gestritten wurde auch an anderer Stelle. Die Politikerin Elisabeth Selbert wollte unbedingt, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz steht. Einige Männer – und von ihnen gab es im Parlamentarischen Rat viele – protestierten: Dann müsste man ja in der Folge eine Menge anderer Gesetze in Deutschland ändern! Doch Selbert ließ nicht locker. Sie organisierte Demonstrationen. Protestbriefe erreichten die Verfassungsväter und -mütter. Und so schaffte es der folgende Satz doch ins Grundgesetz: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.«

Zwar konnten Ehemänner noch bis ins Jahr 1958 das Arbeitsverhältnis ihrer Ehefrauen kündigen, wenn dieses mit den ehelichen Interessen nicht zu vereinbaren war. Doch mit der Zeit erhielten Frauen immer mehr Rechte. Das ist Elisabeth Selbert und den drei anderen Verfassungsmüttern zu verdanken.

Nachdem auch die Westalliierten dem Grundgesetz zugestimmt hatten, wurde es am 23. Mai 1949 feierlich verkündet. Dieser Tag gilt seitdem als Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland. Eine Abstimmung in der Bevölkerung gab es nicht. Dafür fand bald die erste Bundestagswahl statt. »Die Wahlbeteiligung war so hoch, dass man dies als Zustimmung zum neuen Staat gewertet hat«, sagt Feldkamp. »Am 7. September 1949 trat schließlich der Bundestag erstmals in Bonn zusammen. Für mich ist das der wahre Geburtstag der Bundesrepublik. Überall in Bonn waren die Farben Schwarz-Rot-Gold zu sehen. Ein Meer von Flaggen. Das war wie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft.«

Dieser Artikel erschien in »Dein SPIEGEL« 5/2024.

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