Zum Inhalt springen

Proteste in Kenia »Die Wut türmt sich immer weiter auf, unsere Grenze ist überschritten«

In Kenia gehen Tausende auf die Straße, vor allem junge Menschen der Generation Z. Einige erstürmten das Parlament, es gab Tote. Woher kommt der Zorn, und was wollen die Demonstranten erreichen?
Ein Interview von Heiner Hoffmann, Nairobi (Kenia)
Proteste gegen Steuererhöhungen am 25. Juni in Nairobi

Proteste gegen Steuererhöhungen am 25. Juni in Nairobi

Foto: Daniel Irungu / EPA
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

Alle Artikel

Seit mehr als einer Woche demonstrieren vor allem junge Menschen, die zur sogenannten Generation Z gehören, gegen die kenianische Regierung. Am Dienstag erreichten die Proteste ihren Höhepunkt. Tausende junge Kenianerinnen und Kenianer legten die Innenstadt lahm, zeigten zunächst friedlich ihren Unmut. Die Polizei ging von Anfang an mit rücksichtsloser Härte gegen sie vor.

Dann eskalierte die Lage. Eine Gruppe stürmte das Parlament, die Polizei schoss mit scharfer Munition auf die Jugendlichen, mindestens zehn Menschen kamen dabei zu Tode. Präsident William Ruto kündigte in der Folge an, ein umstrittenes Gesetz, an dem sich der Unmut entzündet hatte, nicht zu unterschreiben. Es sieht zahlreiche Steuererhöhungen vor.

Hanifa Adan, 28, ist eines der bekanntesten Gesichter der Protestbewegung. Sie war in den vergangenen Tagen schwer zu erreichen; mehrere Versuche, sie zu treffen, scheiterten. In den sozialen Medien, vor allem auf X, rief sie zum Widerstand auf. Schließlich gelingt es dem SPIEGEL, die junge Aktivistin auf dem Weg in ein Krankenhaus anzurufen, wo sie sich um verletzte Demonstrierende kümmern und aus einer Spendenkasse deren Behandlungskosten bezahlen will.

Vor allem die sogenannte Gen Z ging in Kenia auf die Straße

Vor allem die sogenannte Gen Z ging in Kenia auf die Straße

Foto: Amaury Falt-Brown / AFP

SPIEGEL: Warum ist die Generation Z in Kenia so wütend?

Adan: Der Zorn ist berechtigt. Alles begann mit dem geplanten Finanzgesetz, das der jungen Generation in Kenia noch mehr Lasten aufgebürdet hätte. Wenn der Präsident früher auf uns gehört hätte, wäre die Lage nicht derart eskaliert. Dann hätten nicht so viele Menschen sterben müssen. Jetzt ist die Jugend zusätzlich wütend, weil der Staat uns rücksichtslos tötet. Die Wut türmt sich immer weiter auf, unsere Grenze ist überschritten.

SPIEGEL: Wie ist die Situation für junge Menschen im Land?

Adan: Die Lebenshaltungskosten steigen immer weiter an. Die Proteste finden an Wochentagen statt. Warum sind all diese Jugendlichen jede Woche an einem Wochentag auf der Straße? Weil so viele von ihnen keinen Job haben, trotz guter Bildung und Uniabschluss. Die Menschen sind deprimiert. Sie sind hungrig. Sie haben die Nase voll. Am Anfang war es ein Protest gegen das neue Steuerpaket. Aber es hat sich zu etwas viel Größerem entwickelt.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von X.com, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können Ihre Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

SPIEGEL: Wenn man am Dienstag durch die Menge lief, dann spürte man auch viel Wut gegen den Westen, gegen die USA, gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF). Warum?

Adan: Der IWF hat Kenia einen Milliardenkredit gegeben, und jetzt diktieren sie die Bedingungen, verlangen also vor allem mehr Steuern. Das trifft die Ärmsten am stärksten. Heute wurde in der Presse berichtet, dass der IWF Ruto sogar dazu aufgefordert hat, die Proteste gegen das Finanzgesetz zu ignorieren. Die internationale Gemeinschaft hat uns im Stich gelassen, sie schaut nur zu. Sie haben lange geschwiegen, weil Ruto ein enger Verbündeter der USA ist. Sie haben einfach zugesehen, wie der Präsident die Jugend getötet hat.

SPIEGEL: Inzwischen aber haben die US-Regierung und viele weitere Länder die Gewalt gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten verurteilt.

Adan: Das reicht nicht. Sie müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die für den Tod der jungen Menschen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Die Morde haben außerdem nicht erst mit den Demos begonnen. Seit Langem gibt es willkürliche Tötungen in Kenia, verschwinden unliebsame Menschen spurlos. Das wurde ignoriert. Der Westen wird nicht zulassen, dass Ruto wackelt. Sie brauchen ihn. Wir erwarten gar nichts mehr vom Westen; man wird die Seiten nicht wechseln.

Am Nachmittag erstürmten Protestierende das Parlament, die Polizei schoss auf sie

Am Nachmittag erstürmten Protestierende das Parlament, die Polizei schoss auf sie

Foto: Luis Tato / AFP

SPIEGEL: Die Proteste am Dienstag begannen friedlich. Wie kam es zu der Eskalation, zur Stürmung des Parlaments?

Adan: Man kann eine wütende Menge während solcher Proteste nicht unter Kontrolle halten. Alles ist wegen der Polizeigewalt eskaliert, die Sicherheitskräfte haben die Stimmung angeheizt. Sie haben grundlos auf Menschen geschossen. Da konnte niemand mehr ruhig bleiben.

SPIEGEL: War die Aktion ein Fehler?

Adan: Ich bin ganz offen: Ich halte es für legitim, was sie gemacht haben. Ich war froh, als sie das Parlament gestürmt haben. Wenn man Menschen unterdrückt, dann muss man sich über solch eine Reaktion nicht wundern.

SPIEGEL: Verurteilen Sie zumindest die Plünderungen und den Vandalismus, zu dem es anschließend kam?

Adan: Das waren angeheuerte Schläger. Es begann am Abend. Alle friedlichen Demonstranten waren da schon weg. Diese Leute wurden von Politikern geschickt, um uns zu diskreditieren. Das waren nicht unsere Leute. Die Politiker benutzen jetzt den Vandalismus als Vorwand, um gegen uns vorzugehen.

SPIEGEL: Ruto hat sich dem Druck gebeugt, er wird das Gesetz nicht unterschreiben. Haben Sie Ihr Ziel erreicht? Ist es jetzt vorbei?

Adan: Nein. Das Zugeständnis kam viel zu spät. Die Wut der Leute geht jetzt weit über das Finanzgesetz hinaus, es geht um Korruption, um Polizeigewalt. Ja, wir haben eines unserer Ziele erreicht. Aber die Menschen sind weiterhin wütend. Alles bricht jetzt aus ihnen heraus.

SPIEGEL: Aber was ist dann jetzt das Ziel?

Adan: Ich weiß nicht, was in den nächsten Tagen passieren wird. Der neue Schlachtruf ist: Ruto muss weg. Die Leute wollen keinen Dialog. Er muss zurücktreten.

SPIEGEL: Aber der Präsident will jetzt mit der Jugend sprechen.

Adan: Das wird niemals zustande kommen. Wir sind eine führerlose Bewegung. Niemand wird jemals irgendeinen Kompromiss eingehen. Die Regierung hat alles versucht, um diese Bewegung zu stoppen. Einer der Gründe, warum sie gescheitert sind, ist, dass niemand für uns spricht. Auch ich nicht.

Die Polizei geht weiterhin hart gegen Menschenansammlungen vor, sogar das Militär ist inzwischen im Einsatz

Die Polizei geht weiterhin hart gegen Menschenansammlungen vor, sogar das Militär ist inzwischen im Einsatz

Foto: Kabir Dhanji / AFP

SPIEGEL: Aber es muss doch einen Weg aus dieser verfahrenen Lage geben.

Adan: Ruto hört uns nicht zu. Ein prominenter Berater der Regierung hat uns vor den Protesten »digitale Wichser« genannt. Jetzt haben sie gesehen, wozu wir digitalen Wichser fähig sind. In der ersten Pressekonferenz nach den großen Protesten nannte Ruto uns Terroristen, er wollte uns ins Gefängnis stecken. Einen Tag später änderte er seinen Ton, nannte uns seine Söhne und Töchter und bat um einen Dialog. Das passt doch nicht zusammen.

SPIEGEL: Kenia ist hoch verschuldet, woher soll das Geld für die Rückzahlungen denn kommen?

Adan: Kenia ist eines der korruptesten Länder Afrikas. Wenn wir die Korruption bekämpfen würden, dann könnten wir Millionen US-Dollar freisetzen. Aber stattdessen erhöhen sie die Steuern und stehlen weiter. Sie werfen Geld aus dem Fenster raus, für Luxus-Vorhänge und andere Dinge. Wenn sie das Geld nicht so verschwenden würden, müssten wir nicht immer neue Schulden aufnehmen.

SPIEGEL: Gestern sollten die Proteste weitergehen, aber es kamen nur wenige Leute. Manche hatten dazu aufgerufen, den Amtssitz des Präsidenten zu besetzen. Sie selbst hatten davor gewarnt und wurden dafür angefeindet. Ist die Bewegung bereits hoffnungslos gespalten?

Adan: Ich habe davon abgeraten, zum State House zu gehen, weil ich das für gefährlich halte. Dort war das Militär stationiert. Die Leute waren von Emotionen getrieben, es wären noch mehr Menschen gestorben. Aber jetzt würde ich sagen: Neu formieren und weiterkämpfen!

SPIEGEL: Erwarten Sie, dass die Proteste auf andere afrikanische Länder übergreifen?

Adan: Ich habe viele Nachrichten aus anderen Ländern bekommen. Wir haben die Jugend in ganz Afrika inspiriert. Menschen in Tansania halten bereits Vorträge darüber, was sie von den Protesten in Kenia lernen können. Die Jugend ist auch anderswo wütend, und sie werden diese Wut auf die Straße tragen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.