Zum Inhalt springen
Heiner Hoffmann

Proteste in Kenia Diese Wut ist berechtigt

Heiner Hoffmann
Ein Kommentar von Heiner Hoffmann, Nairobi (Kenia)
Voller Zorn wenden sich junge Demonstrierende in Kenia gegen den Präsidenten, aber auch gegen den Westen. Warum der endlich umdenken muss.
Demonstranten am 26. Juni in Nairobi

Demonstranten am 26. Juni in Nairobi

Foto: Amaury Falt-Brown / AFP
Globale Gesellschaft

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.

Alle Artikel

Wer gestern als weißer Mensch durch die Menge der Demonstrierenden in der Innenstadt von Nairobi lief, der hörte Sätze wie diese: »Lasst uns in Ruhe!«, »Wir werden wieder kolonialisiert!«, oder: »Mischt euch nicht ein!« Mit »euch« waren gemeint: die USA – der Westen allgemein.

Die Demonstrierenden, viele so um die zwanzig Jahre alt, gehören der Gen Z an und fühlen sich von dem Präsidenten William Ruto verraten. Er erhöhte in den vergangenen Monaten eine Gebühr und Abgabe nach der anderen. Die Lebenshaltungskosten stiegen beständig. Ein neues Gesetz war dann der eine Dreh an der Steuerschraube zu viel. In der Ursprungsfassung sollte sogar die Steuer auf Brot erhöht werden. Daran entzündeten sich die Proteste.

Tiffany Mwangi geht zum ersten Mal demonstrieren

Tiffany Mwangi geht zum ersten Mal demonstrieren

Foto: Malin Fezehai / DER SPIEGEL

Diese Steuererhöhungen werden vor allem von der jungen Generation als Diktat des Westens gesehen. Für sie ist Präsident Ruto zu einer Marionette des Globalen Nordens geworden. Daran trägt auch die US-Botschaft eine erhebliche Mitschuld. Botschafterin Meg Whitman pries noch vor wenigen Tagen das neue Gesetz an und lobte vor allem die öffentliche Partizipation. Das zeigt, wie weltfremd manche westlichen Diplomaten in Afrika unterwegs sind und wie weit von der Lebensrealität der Menschen entfernt. Denn die Kenianer fragten sich: Welche Partizipation? Diskussionsrunden und Aufforderungen zu Stellungnahmen nahmen sie als »Kosmetik« und »PR-Show« wahr. Erst die Proteste auf der Straße hatten einen Effekt. Heute hat Ruto angekündigt, das neue Gesetz doch nicht verabschieden zu wollen.

Aus der Wut der jungen Generation muss der Westen lernen.

Die Wut der Protestierenden richtet sich aber nicht nur gegen die US-Regierung. Auch der Internationale Währungsfonds in Washington wird kritisiert. Denn der IWF gewährt Kenia seit einigen Jahren einen Milliardenkredit und fordert im Gegenzug mehr Staatseinnahmen und weniger Ausgaben. Ohne die Zustimmung des IWF kann der kenianische Staat kaum mehr haushaltspolitisch agieren. Steuern waren da der einfachste Weg.

Doch aus der Wut der jungen Generation muss der Westen nun lernen. Er darf sie nicht als reine Krawallmacher abtun. Man muss die Randale und Plünderungen des Abends, auch die umstrittene Stürmung des Parlaments, getrennt von den Tausenden friedlichen Protestierenden betrachten.

Zur naheliegendsten Frage, den Steuererhöhungen: Ja, Kenia ist hoch verschuldet. Das liegt vor allem daran, dass die Vorgängerregierungen viel Geld geradezu verprasst haben, für Mega-Infrastrukturprojekte, von denen sich viele als Flop herausstellten. Zudem geht ein erheblicher Teil des Staatshaushalts durch Korruption verloren. Ruto kann gar nicht anders, als mehr Geld heranzuschaffen, allein damit er die Zinsen zurückzahlen kann. Er braucht also den IWF, und an Steuererhöhungen führt kaum ein Weg vorbei.

Doch Ruto hat sich verzockt. Jetzt muss er korrigieren, und der IWF könnte ihm dabei entgegenkommen. Er könnte sagen: Lasst uns zusammensetzen, lasst uns gemeinsam mit der Regierung und Zivilgesellschaft überlegen, wie Kenia die Schulden loswerden kann – offen und transparent, und nicht im Hinterzimmer. Fest steht: Die aktuelle Linie funktioniert nicht. Denn die Steuereinnahmen steigen nicht wie erhofft. Je mehr die Steuern erhöht werden, desto mehr Menschen versuchen, sie zu umgehen.

Pinkes Wasser gegen friedliche Demonstrierende: Die Polizei setzte von Anfang an auf Eskalation

Pinkes Wasser gegen friedliche Demonstrierende: Die Polizei setzte von Anfang an auf Eskalation

Foto: EPA

Ein weiteres Problem: Wenn der Westen die afrikanische Jugend nicht gänzlich vergraulen will, kann er sich nicht unkritisch mit Staatschefs wie William Ruto verbrüdern. Doch die westlichen Verbündeten haben entweder unterschätzt, zu welchen autokratischen Tendenzen dieser Präsident fähig ist, oder sie wollten es bewusst nicht sehen.

Dabei musste sich Ruto sogar schon einmal vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten, wegen seiner Rolle bei den blutigen Auseinandersetzungen nach der Wahl 2007. Ihm wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Das Verfahren wurde am Ende eingestellt, Zeugen waren offenkundig beeinflusst worden. Seither hat man ihn kontinuierlich verharmlost.

Stattdessen wurde Kenia gerade zum offiziellen Nato-Verbündeten ernannt. Für den Westen war Ruto stets ein verlässlicher Partner, einer der wenigen, auf die man in Afrika noch zählen konnte. Vor Kurzem wurde der kenianische Präsident in Washington mit einem offiziellen Staatsempfang geehrt – als erster afrikanischer Regierungschef seit 16 Jahren.

Während die westlichen Regierungen Ruto also hofierten, entfernte sich seine Regierung immer stärker vom Volk. Der Topwirtschaftsberater David Ndii bezeichnete die jungen Demonstrierenden als »digitale Wichser«, andere Politiker äußerten sich ähnlich abwertend. Ernst genommen hat die Jugend bisher niemand.

Am Ende des Nachmittags wurde das Parlamentsgelände gestürmt. Mindestens zehn Menschen kamen dabei laut Berichten ums Leben

Am Ende des Nachmittags wurde das Parlamentsgelände gestürmt. Mindestens zehn Menschen kamen dabei laut Berichten ums Leben

Foto: Luis Tato / AFP

Nun wirft die junge Generation dem Westen vor, all das ignoriert und stattdessen Ruto unterstützt zu haben. Daran ist vieles wahr. Denn Washington, aber auch Berlin, hatten stets ein größeres Interesse: Sie brauchten den Präsidenten als afrikanischen Mann an ihrer Seite. Das liegt auch daran, dass viele andere Länder auf dem Kontinent als Partner abhandengekommen sind, sich lieber Russland zugewendet haben. Europa und die USA sahen sich also in einem globalen Kräftemessen, das es wert war, auch mal ein Auge zuzudrücken.

Ruto agiert im Gegenzug ganz in ihrem Sinne. Auf der vor zehn Tagen abgehaltenen Ukraine-Friedenskonferenz in der Schweiz verurteilte er den Angriff Putins auf die Ukraine, eine ungewöhnlich deutliche Haltung für ein afrikanisches Staatsoberhaupt. Zu Hause kam das gar nicht gut an, verstärkte das Bild der Marionette des Westens.

Was also muss nun passieren? Zum einen müssen Regierungen und Diplomaten des Globalen Nordens aufhören, Afrika als geopolitisches Spielfeld zu betrachten. Diese Haltung ist weitverbreitet, das spürt man in Gesprächen immer wieder.

Die Polizeigewalt setzte sich auch am Abend und in der Nacht fort, gleichzeitig kam es zu Plünderungen in der Innenstadt

Die Polizeigewalt setzte sich auch am Abend und in der Nacht fort, gleichzeitig kam es zu Plünderungen in der Innenstadt

Foto: Simon Maina / AFP

Sie müssen aber auch begreifen: Die kenianische Jugend ist nicht antiwestlich, im Gegenteil. Sie sind top ausgebildet, viele studieren an Unis. Doch die junge Generation findet keine Jobs. Jurastudierende schlagen sich als Tagelöhner durch, Krankenschwestern verdienen wenig und wandern lieber ins Ausland ab.

Hier könnten sowohl der IWF als auch westliche Regierungen ansetzen. Indem sie unter anderem deutlich mehr Korruptionsbekämpfung einfordern (und bei Nichterfolg sanktionieren), auch das Vermögen der Eliten besteuern, und keine Steuerausnahmen für politische Günstlinge zulassen. Offen ausgehandelt, transaktional, unter Beteiligung der Zivilgesellschaft. Das ist nicht Neokolonialismus. Und vor allem müssen die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Tage, das Verschwinden von Aktivistinnen und Aktivisten, die Bedrohung von Journalistinnen und Journalisten, das Erschießen von Demonstranten, knallhart angesprochen und sanktioniert werden. Ohne Rücksicht auf geopolitische Verluste. Sonst hält man sich zwar ein Regime warm, verliert dabei aber die nächste Generation.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.