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Wolfgang Jenewein

EM-Aus der Deutschen Nationalmannschaft Manchmal verliert man und gewinnt trotzdem

Wolfgang Jenewein
Eine Kolumne von Wolfgang Jenewein
Der Weg der deutschen Nationalmannschaft in der EM 2024 ist eine moderne Heldengeschichte, die nicht im Triumph endete, sondern etwas Größeres erreicht hat. Aus einem Team of Stars ist ein Starteam geworden, das füreinander einsteht, Mut und Zuversicht ausstrahlt. Eine Haltung, die ansteckend wirkt.
Starteam: Leroy Sané hebt den Torschützen Florian Wirtz nach dem Ausgleichstreffer in die Höhe

Starteam: Leroy Sané hebt den Torschützen Florian Wirtz nach dem Ausgleichstreffer in die Höhe

Foto: Matthias Koch / IMAGO

Es sind bereits 120 Minuten regulär gespielt, die dritte Minute Nachspielzeit läuft: Flanke Müller, Kopfball Füllkrug. Allen liegt der Torschrei auf den Lippen, doch der Ball geht haarscharf vorbei. Damit war es amtlich. Deutschland ist bei der Fußball-EM 2024 im Viertelfinale ausgeschieden. Das Spiel hätte viele andere Wendungen nehmen können. Wenn Niclas Füllkrug den Ball in der zweiten Halbzeit statt an den Pfosten ins Tor schießt, wenn der Heber von Kai Havertz ein My schneller herunterfällt, wenn Anthony Taylor beim Handspiel von Marc Cucurella Elfmeter pfeift, und so weiter. Leistung ist planbar, Erfolg nicht. Das gilt vor allem im Fußball, wo häufig Zentimeter über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Besonders in K.O.-Spielen, in denen ein einziges Spiel über Wohl und Wehe zweier ganzer Fußballjahre einer Nationalmannschaft entscheidet.

Es war traurig mitanzusehen, wie die deutsche Mannschaft gestern ausschied und mit dieser Niederlage die einzigartige Karriere von Toni Kroos endete. Doch manchmal verliert man und gewinnt trotzdem.

Stars als Serving Leaders

Als Deutschland in der 52. Minute in Rückstand geriet, zeigte sich der wahre Charakter dieser Mannschaft. Sie fiel nicht auseinander, es gab keine Schuldzuweisungen, sondern sie blühte unter dem Druck richtig auf. Eine Angriffswelle nach der anderen rollte auf das Tor der Spanier zu, bis Florian Wirtz die Bemühungen in der 89. Minute mit dem Treffer krönte. Sinnbildlich auch der Jubel der Mannschaft. Leroy Sané, der zur Halbzeit für Wirtz ausgewechselt wurde, rannte über den halben Platz, war als einer der Ersten beim Torschützen und hob ihn in den Himmel. Das zeigte einen der wichtigsten Leistungsfaktoren dieser Mannschaft. Aus einem Team of Stars war seit Herbst letzten Jahres ein echtes Starteam geworden. Ein Starteam, in dem sich keiner selbst zu wichtig nahm und jeder für den anderen einstand. Selbst wenn der andere – wie in diesem Fall – ein Konkurrent um einen Platz in der Startelf war.

Ähnlich wie bei der WM 2014 Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger haben sich Stars wie Ilkay Gündogan und Toni Kroos selbst nicht so wichtig genommen und als sogenannte Serving Leaders in den Dienst der Mannschaft gestellt. Auch Thomas Müller gab sich lange mit der Rolle des Bankdrückers zufrieden, nahm aber neben dem Platz eine wichtige Funktion ein, indem er zwischen verschiedenen Spielergruppen vermittelte. Die Mannschaft spielte nicht miteinander, sondern füreinander und zog aus der Gemeinschaft Kraft. Anders als bei früheren Turnieren hörte man in vielen Interviews Stimmen wie von Ilkay Gündogan: „Wir sind eine tolle Truppe, haben einen tollen Trainer und ein tolles Team hinter der Mannschaft“.

Das Team ist noch größer

Dieser Teamspirit hörte aber nicht bei den Beteiligten der Nationalmannschaft auf, sondern steckte die ganze Nation an. So fühlten sich nach langer Zeit viele deutsche Hobby- und Vollblut-Fußballfans wieder als Teil einer Bewegung. Deutsche Fans identifizierten sich vollends mit der Nationalmannschaft, waren stolz auf das, was sie repräsentiert. Dieser Purpose beflügelte wiederum die Nationalspieler. So richtete sich Niclas Füllkrug nach dem Spiel direkt an die Fans: „Es war wahnsinnig schön, für euch auf dem Platz zu kämpfen.“ Es sei eine Ehre gewesen, den Deutschen die Freude am Spiel zurückzugeben, war in vielen Interviews von Spielern zu hören. Es war ähnlich wie beim Sommermärchen 2006. Einem Land, das oft in Tristesse und Pessimismus versinkt, wurde wieder Leben eingehaucht, und es entstand ein Starteam, das viel größer war als das eigentliche Team auf dem Platz. Vielen Menschen wurde aufgezeigt, wie kraftvoll es ist, gemeinsam an etwas zu glauben.

Eine moderne Heldengeschichte

Der Weg der deutschen Nationalmannschaft ist eine moderne Heldengeschichte, die nicht im absoluten Triumph, dem Gewinn der Europameisterschaft endete, sondern etwas Größeres erreicht hat. Toni Kroos sagte nach dem Spiel in der Kabine: „Es ist nicht entscheidend, dass du immer brillierst, sondern den Mut hast, an dich und das Team zu glauben“. Diesen Mut, diese Zuversicht und den Glauben, dass man gemeinsam alles erreichen kann, hat die Nationalmannschaft in den letzten Wochen uns Deutschen vermittelt. Hoffen wir, dass in unseren Herzen ein wenig davon hängenbleibt und wir diesen Spirit für andere Bereiche unserer Gesellschaft wie Wirtschaft und Politik erhalten können. Den Glauben, dass wir, wenn wir füreinander einstehen, gemeinsam alles erreichen können. Auch wenn wir auf dem Weg dahin einmal eine Niederlage einstecken müssen – wie die Nationalmannschaft im Viertelfinale –, stehen wir danach wieder auf und gehen unseren Weg weiter. Denn in einem Starteam schweißt eine solche Niederlage noch mehr zusammen.

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