SPIEGEL-Klimabericht Das entkernte Klimaschutzgesetz wird uns teuer zu stehen kommen
Manchmal sind terminliche Überschneidungen kein Zufall, sondern ein politisches Signal. So könnte man zumindest die klimapolitischen Ereignisse vom vergangenen Montag deuten.
Gegen zehn Uhr stellte der – von der Bundesregierung einberufene – Expertenrat für Klimafragen seinen jährlichen Prüfbericht zur Treibhausgasbilanz für 2023 vor. Bei dem Termin in der Bundespressekonferenz in Berlin mahnten die Fachleute, dass der Verkehrssektor seine Zielvorgaben weit verfehlt habe. Dass in anderen Bereichen Treibhausgase eingespart wurden, sei mehrheitlich auf äußere Umstände zurückzuführen, etwa auf milde Witterung oder den Einbruch der Konjunktur. Alles Faktoren, die sich schnell wieder ändern können.
Der Expertenrat schätzt, dass der Ausstoß von Treibhausgasen ohne die Wirtschaftsflaute und die milde Witterung 2023 um 74,3 Millionen Tonnen höher gelegen hätte – und damit etwa auf Vorjahresniveau verblieben wäre. Ohne die emissionsmindernden äußeren Umstände wäre der im Gesetz festgelegte Zielwert damit deutlich überschritten worden. Die Einsparungen sind alles andere als ein Erfolg für die Regierung.
Die stellvertretende Vorsitzende des Expertenrats für Klimafragen, Brigitte Knopf (l.) und der Vorsitzende Hans-Martin Henning (r.) mit dem neuen Prüfbericht am Montagmorgen in Berlin.
Foto: Frederic Kern / Future Image / IMAGODie fünf Mitglieder des Expertenrats trugen dieses Klimaschutz-Versagen wie jedes Jahr in einem ruhigen, wissenschaftlich-analytischen Ton vor. Doch bei einem Thema wurden sie dieses Mal besonders deutlich: Die stellvertretende Vorsitzende des Gremiums, Brigitte Knopf, wies darauf hin, dass die von der Regierung geplante Reform des Klimaschutzgesetzes (KSG) keine gute Idee sei. Zu dem Zeitpunkt war die Novelle noch in der Schwebe.
Es muss für das oberste Beratungsgremium in Sachen Klima wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, als nur ein paar Stunden später die Einigung der Koalitionäre auf genau diese Novelle verkündet wurde. Monatelang war um die Reform gerungen worden, ausgerechnet an diesem Montag wurde sie abgenickt. So viel gibt die Regierung also auf den Rat ihrer selbst einberufenen Experten, nämlich nichts.
Der Blick ins Morgen mit den Daten von gestern
Bisher sah das Klimaschutzgesetz jährliche Sektorziele für die Bereiche Energiewirtschaft, Verkehr, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft und den Abfallsektor vor. Wenn einzelne Sektoren wie der Verkehrs- oder Gebäudebereich gesetzliche Vorgaben zum CO₂-Ausstoß verfehlten, mussten die zuständigen Ministerien im nachfolgenden Jahr Sofortprogramme vorlegen.
Vor allem die FDP drängte darauf, die »starren Sektoren« abzuschaffen und das Gesetz »flexibler« zu gestalten. Mit der Reform sollen die Klimaziele nicht mehr rückwirkend nach Sektoren überprüft werden, sondern in die Zukunft gerichtet, mehrjährig und sektorenübergreifend. Wenn sich dann in zwei aufeinanderfolgenden Jahren abzeichnet, dass die Bundesregierung nicht auf Kurs ihres Klimaziels für das Jahr 2030 ist, muss sie nachsteuern. Bis 2030 muss der Treibhausgasausstoß danach um mindestens 65 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 sinken.
Die Koalitionäre rechtfertigten die Reform mit dem Slogan »nicht zurück, nach vorn schauen«. Das mag sich gut anhören, ist aber ziemlicher Unsinn. Denn ihr Blick in die Zukunft basiert zumindest teilweise auf den Werten der Vorjahre.
Der Gewinner der KSG-Reform: Volker Wissing
Foto: Rene Traut / IMAGOSo knüpfen die aktuellen Projektionen von Habeck für 2030 nun an die Werte aus 2023 an – als der Produktionseinbruch und die milde Witterung die Ergebnisse verzerrten. Dabei gibt es im Bereich der energieintensiven Industrie laut dem Thinktank Agora Energiewende aktuell bereits Anzeichen für einen schnelleren Aufschwung, der die Emissionen erhöhen würde. »Bis 2030 schlägt dann die steigende Nachfrage von mehr Wärmepumpen und E-Pkw durch«, meint Agora-Energiewende-Chef Simon Müller. Wie verlässlich sind diese Szenarien also? Rechnet sich die Bundesregierung ihre Klimabilanzen so schön?
Strafzahlungen und fahnenflüchtige Verkehrsminister
Noch aus einem anderen Grund halten Fachleute die Reform des Klimaschutzgesetzes für kontraproduktiv. Laut Expertenrat-Mitglied Brigitte Knopf führe sie dazu, dass die Ministerien keine Verantwortung mehr übernehmen müssten. Im Gespräch mit dem SPIEGEL erklärte Knopf am Montag, ein Wegfall der Sektoren sei reine Augenwischerei. Deutschland müsse weiterhin auch europäische Ziele erfüllen und dort würden »Verkehr, Gebäude, aber auch Landwirtschaft weiterhin separat betrachtet.«
Halte sich der Verkehrsbereich nicht an die Emissionsgrenzen, seien auch die europäischen Ziele in Gefahr, so Knopf. Und in Deutschland würden 2030 Strafzahlungen fällig. Es wäre nicht das erste Mal: Bereits in der Vergangenheit musste Deutschland für mehrere Millionen Euro Zertifikate bei der EU für verfehlte Klimaziele kaufen.
Mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes kann sich Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) nun trotzdem erst mal zurücklehnen. Er hatte noch am vergangenen Wochenende mit Fahrverboten gedroht, sollten die Sektorziele im deutschen Klimaschutzgesetz bestehen bleiben.
Es sei verständlich, dass sich Wissing und mit ihm die gesamte Ampelkoalition aus dieser Verantwortung stehlen möchte, kommentierte mein Kollege Arvid Haitsch . Dass nun derartige Maßnahmen drohten, sei jedoch eine Folge der eigenen Versäumnisse. »Die Zeit, als man mit einem Tempolimit allein hätte gegensteuern können, ist vorbei. Als die Ampelkoalition 2021 antrat, da hätte sie damit noch zeigen können, dass sie die Klimaziele ernst nimmt«, schreibt unser Mobilitätsexperte.
Nun haben die Koalitionäre die Verantwortung an die Verkehrsministerinnen und Minister in den Dreißigerjahren abgegeben. Dann nämlich wird es schnell teuer, wenn deutschlandweit noch eine riesige Flotte Diesel und Benziner unterwegs ist. Das ist dann nur wahrscheinlich nicht mehr das Problem von Volker Wissing. Vielleicht wechselt er einfach in die Wirtschaft, wie sein Vorgänger Andreas Scheuer . Die Geschichte hat gezeigt: Verkehrsminister fallen weich, egal, was sie für einen Schaden angerichtet haben.
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Foto: Joeran Steinsiek / IMAGODie Themen der Woche
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Redakteurin Wissenschaft