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Christian Böllhoff

Investitionen, Patente, Handelsabkommen So kann Europas Wirtschaft die USA und China einholen

Christian Böllhoff
Ein Gastbeitrag von Christian Böllhoff
Wirtschaftswachstum, Pro-Kopf-Einkommen, Produktivität: Europa droht im internationalen Wettbewerb an wirtschaftlichem Gewicht zu verlieren. Für eine Aufholjagd sind vier Punkte entscheidend.
Foto: Cristina Gaidau / Getty Images

Für eine erfolgreiche Teilnahme in jedem Wettbewerb braucht es mindestens zwei Elemente: Ein schlagkräftiges Team sowie eine zielorientierte Strategie. Dies gilt im Fußball ebenso wie im wirtschaftlichen Kräftemessen Europas mit den USA und China, den beiden anderen globalen Champions.

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Christian Böllhoff ist geschäftsführender Gesellschafter der Prognos AG. Der Ökonom lebt in Berlin und Basel

Allerdings: Der alte Kontinent, der vorgestern noch als globales Kraftzentrum galt, ist alles andere als Weltklasse. In kaum einer Disziplin hat er Bestwerte vorzuweisen: Wirtschaftswachstum, Pro-Kopf-Einkommen, Produktivität, auf welche Kennzahl man auch schaut: Europa droht im internationalen Wettbewerb an wirtschaftlichem Gewicht zu verlieren. Wie Modellrechnungen aus der volkswirtschaftlichen Abteilung des Prognos-Instituts zeigen, könnte das Wachstum Chinas im Jahr 2030 bei 3,5 Prozent liegen. Die Vereinigten Staaten kämen dann auf 2,1 Prozent. In der EU läge der Zuwachs lediglich bei 1,3 Prozent. Das liegt vor allem an der schwachen Produktivitätsentwicklung. An Daten der Statistikbehörde Eurostat lässt sich seit Jahren ein Abwärtstrend ablesen. Wuchs die Arbeitsproduktivität EU-weit im Jahr 2000 noch 3,2 Prozent, betrug das Plus 2022 gerade mal 0,6 Prozent.

Ein Neustart ist möglich

Die Zeit drängt. Da ist es gut, dass jetzt nach der EU-Wahl ein Neustart denkbar ist. Schritt eins haben wir schon fast geschafft. Auf ihrem j��ngsten Gipfel haben die europäischen Regierungschefs mit Ursula von der Leyen, dem früheren portugiesischen Premier Antónia Costa und der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas die künftigen EU-Spitzen nominiert: Ob sie die Bestbesetzung sind, ist nicht mein Thema. Mir geht es um das zweite Element für den Erfolg: den richtigen Matchplan.

Die EU-Spitzen müssen sich in den kommenden Wochen die Frage beantworten, wo ihre strategischen Prioritäten für die kommenden fünf Jahre liegen. Hinzu kommt, dass Europa erhebliche Rückstände aufzuholen hat. Das ist neben der Entwicklung der Strategie die zweite große Aufgabe. Aus Sicht des Wirtschaftsforschers ergeben sich vier Schwerpunkte, die EU-Kommission und Europäischer Rat jetzt angehen müssen:

  • Europäische Unternehmen geben zu wenig Geld für neue Maschinen, Geräte oder Fahrzeuge aus. Der Anteil von Ausrüstungsinvestitionen am EU-Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2022 nur elf Prozent. Um die digitale und grüne Transformation voranzutreiben, müssten Unternehmen viel mehr Geld investieren. Dass sie es nicht tun, signalisiert Misstrauen gegenüber der Zukunft. Die Kommission muss für mehr Planungssicherheit und bessere Rahmenbedingungen sorgen, insbesondere bei der Infrastruktur. Zudem brauchen wir endlich die Kapitalmarktunion.

  • Bei der Anmeldung von Patenten, einem wichtigen Indikator für den Forschungsoutput, ist China die weltweite Nummer eins. Wie eine Auswertung der Statistik des Europäischen Patentamts zeigt, wurden im Jahr 2022 aus der Volksrepublik 26 Prozent aller Weltpatente eingereicht, der Anteil der USA lag bei 22 Prozent, Europa kam nur auf 17 Prozent. Um nicht den Anschluss zu verlieren, braucht es mehr und effizienter eingesetzte private und staatliche Investitionen. Forschung und Entwicklung sollte die EU nicht nur durch komplexe Zuschüsse stimulieren, sondern mehr auf bessere Abschreibungsmöglichkeiten setzen.

  • Von Portugal bis Finnland ächzt die Wirtschaft unter einer wachsenden Last an Vorschriften und Formalien. Wie eine Umfrage der Europäischen Investitionsbank aus 2023 zeigt, sieht die Wirtschaft den finanziellen und bürokratischen Aufwand von Regulierungen auf nationaler und europäischer Ebene als Standortrisiko. 61 Prozent der Unternehmen gaben an, deshalb auf Investitionen zu verzichten. Zusammen mit den Mitgliedsländern muss Brüssel Aufwand und Ertrag von Vorschriften in ein sinnvolles Verhältnis setzen: Für jede neue (möglichst zeitlich limitierte) Regulierung sollte sie zwei alte Regeln abschaffen. Sie muss dafür sorgen, dass Überlappungen, Überregulierung und Widersprüche umfassend und schnell beseitigt werden.

  • Damit Europa von der wirtschaftlichen Dynamik in anderen Regionen der Welt partizipieren kann, muss Europa verhandelte Abkommen endlich in Kraft setzen, etwa mit Kanada, Kenia, oder den lateinamerikanischen Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. Laufende Verhandlungen sollte die EU zügig abschließen, zum Beispiel mit Indien oder den Philippinen. Je mehr Länder mit uns handeln, desto weniger sind wir von einzelnen Ländern abhängig. Außerdem: Während sich die Welt wirtschaftlich immer weiter fragmentiert, sollte Europa seinen mächtigen Binnenmarkt weiterentwickeln – über sämtliche Sektoren hinweg. Besonders wichtig sind dabei gemeinsame Märkte für Kapital, Energie und Kommunikation.

Das sind nur die Mindestvoraussetzungen, um im geoökonomischen Wettbewerb mit den anderen Regionen bestehen zu können. Damit Europa nicht verzwergt, muss der Kontinent nach außen nicht nur entschlossener, sondern geschlossener auftreten. Es muss gelingen, objektiv schwer zu vereinbarende regionale Interessen zu einem gemeinsamen Interesse zusammenzuführen. Die USA und China zeigen uns, wie es geht. Europa ist außerdem mehr als die Europäische Union. Die Brüsseler Politik muss deshalb aufhören, den Kontinent auf die Mitgliedstaaten zu reduzieren. Losgelöst von der Konstruktion des Staatenbundes muss der Kontinent sich im globalen Wettbewerb als der riesige Wirtschaftsraum darstellen, der er ist. Dazu gehören Island, Großbritannien und Norwegen oder die Schweiz ebenso wie die Ukraine oder Nordafrika.

Der Staatenbund ist stärker, als viele denken

Im Umgang mit Washington und Peking ist selbstbewusste Politik gefragt. Die muss sich an den eigenen ökonomischen Interessen orientieren. Europa braucht vor niemandem zu kuschen. So schwach, wie viele den Staatenbund sehen wollen, ist er nicht. Kein international agierendes Unternehmen will vom europäischen Markt abgeschnitten sein. Das sagt etwas über die Kräfteverhältnisse – und darüber, wie Europa diese Welt mitgestalten kann.

Dafür ist es wichtig, dass wir aufhören, auf unsere Schwächen zu starren. Beschäftigen wir uns vielmehr mit dem, was wir in der Hand haben. Dazu gehören die europäischen Stärken, wie etwa die exzellenten Forschungsinstitutionen oder die großen und kleinen Weltmarktführer.

Selten gewinnen die Teams, die den Ball im Mittelfeld verschleppen. Europa braucht jetzt mehr Geschwindigkeit und Angriffslust. Dabei hilft es, auch mal alte Überzeugungen zu hinterfragen. Dazu gehört auch, faire und reziproke Wettbewerbsbedingungen einzufordern. Dann ist mehr drin als ein mittelmäßiger und letztlich inakzeptabler dritter Platz. Wir wollen den Pott. Auf geht’s Europa!

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