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Susanne Beyer

Volle Kalender in der Politik Termine absagen, bitte

Susanne Beyer
Eine Kolumne von Susanne Beyer
Kanzler, Minister, Ministerinnen – alle hetzen herum, als ließe sich die Welt mit dem Sammeln von Fleißpunkten retten. Die politische Klasse braucht mehr Zeit zum Nachdenken.
aus DER SPIEGEL 28/2024
Kanzler Scholz auf der Industriemesse Hannover (2023): Händeschütteln, Foto, Adieu

Kanzler Scholz auf der Industriemesse Hannover (2023): Händeschütteln, Foto, Adieu

Foto: Michael Matthey / picture alliance / dpa

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Den Anspruch, gut regiert zu werden, sollten wir nie aufgeben. Manchmal frage ich mich aber, ob die Voraussetzungen für gutes Regieren überhaupt noch gegeben sind, mal unabhängig von bestimmten Personen, Konstellationen oder Parteien.

Nehmen wir die Terminkalender. Der Kanzler, die Minister und Ministerinnen: immer unterwegs. Wann denken die mal nach? Mir wird ganz anders bei dem Gedanken, dass in diesen Tagen Europa in Gefahr gerät und das transatlantische Bündnis gleich mit, aber die da oben womöglich keine Ruhe finden, genauer nachzudenken, was das für uns bedeutet. Vizekanzler Robert Habeck ist ein kluger Mann, aber schauen wir mal in seine nächste Woche: Er wird in sieben Bundesländern erwartet.

Natürlich gehören zum Regieren Außentermine und Sichtbarkeit. Um sich ihrem Volk zu zeigen, zogen Könige und Kaiser des Mittelalters von Residenz zu Residenz, mehr als hundert Pfalzen ließ Karl der Große in seinem Reich errichten. Heute haben es Regierende durch allerlei Technik leichter, sich beim Arbeiten zusehen zu lassen. Doch dadurch ist leider auch die Erwartung gestiegen, sie mögen andauernd zu sehen sein.

»Souverän reagieren und regieren kann nur, wer mögliche Strategien vorab durchdenken konnte.«

Die Individualisierung tut ihr Übriges: Immer mehr und immer kleinere Gruppen scheinen so von ihrer Bedeutung überzeugt zu sein, dass sie Besuche des Kanzlers oder einer Ministerin für angemessen halten. Wenn eine Seniorengruppe für Ausdruckstanz in Köln-Nippes den Anspruch erheben würde, zu ihrem 44. Jubiläum Olaf Scholz zum Mitmachen erwarten zu dürfen, würde es mich nicht wundern.

Nun könnte man argumentieren, dass für das eigentliche politische Handwerk die Regierungsapparate zuständig seien. Doch wenn etwas schiefgeht, wird die Spitze verantwortlich gemacht, also muss sie auch die Prozesse im eigenen Haus durchdringen und die Leitlinien vorgeben. Dafür nötig sind Momente der Besinnung.

Operative Ämter erfordern ohnehin mehr als die reine Repräsentation von Ideen, die Untergebene entwickelt haben. An den entscheidenden Verhandlungstischen sitzen die Spitzenleute selbst. Sie müssen dort flexibel auf Dynamiken eingehen, die nicht absehbar waren. Souverän reagieren und regieren kann nur, wer mögliche Strategien vorab durchdenken konnte.

Besuch oder Affront?

Natürlich müssen Regierende auch herumreisen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Aber eigentlich haben sie wenig Gelegenheiten, auf Gespräche einzugehen, was auf beiden Seiten Frust schaffen kann. Händeschütteln, Foto, Adieu – ist so etwas noch ein Besuch oder schon ein Affront?

Weniger Termine könnten mehr Wirkung entfalten und Platz schaffen für Momente der Muße, die Geistesblitze oft erst möglich machen. Die Welt lässt sich nicht über Fleißpunkte retten, es braucht den richtigen Plan.

Wer spricht ein Machtwort, damit sich etwas ändert? Am besten die da oben.

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