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Die Augenzeugin »Geboren in einer Zeit, als homosexuelle Handlungen verboten waren«

Die Sozialpädagogin Anna Geiger berät und begleitet queere Menschen beim Älterwerden. Ein neues Wohnheim in München orientiert sich an deren Bedürfnissen.
Aufgezeichnet von Katherine Rydlink
aus DER SPIEGEL 28/2024
Sozialpädagogin Geiger: »Beschimpft, bespuckt, ausgegrenzt oder verurteilt«

Sozialpädagogin Geiger: »Beschimpft, bespuckt, ausgegrenzt oder verurteilt«

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Sandra Singh / DER SPIEGEL

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»Queere Menschen, die jetzt alt werden, sind die erste Generation, die offen schwul und lesbisch leben konnte. Geboren wurden sie in einer Zeit, als homosexuelle Handlungen verboten waren. Teilweise haben sie krasse Diskriminierung erlebt. In München wurde vor Kurzem ein Wohnheim für sie eröffnet, das ›Queer Quartier Herzog*in‹. In der Community bestand schon länger der Wunsch nach einem Projekt, das speziell auf die Bedürfnisse älterer, queerer Menschen ausgerichtet ist. Denn Menschen, die noch den Paragraf 175 des Strafgesetzbuches miterlebt haben, der homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe gestellt hat, haben eine besondere Biografie.

Zur Person

Anna Geiger, 56, ist Sozialpädagogin und Beraterin beim Netzwerk »Rosa Alter« in München. Es gehört zur Aids-Hilfe und ist ein Angebot für ältere, queere Menschen. Seit Kurzem hat in München das »Queer Quartier Herzog*in« eröffnet, ein Wohnheim mit 28 Wohnungen. Es soll ein sicherer, diskriminierungsfreier Ort sein, an dem diversitätssensible Pflege wichtig genommen wird. Dort leben queere Seniorinnen und Senioren in einer großen Hausgemeinschaft.

Wenn sie sich öffentlich schwul, lesbisch, trans- oder intergeschlechtlich gezeigt haben, wurden sie beschimpft, bespuckt, ausgegrenzt oder verurteilt. Müttern wurde mitunter sogar das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen, wenn sie sich nach einer heterosexuellen Beziehung geoutet haben. Der Grund: Gefährdung des Kindeswohls. Die meisten haben außerdem Freunde durch die Aids-Krise verloren. Das sind Erlebnisse, die prägen.

DER SPIEGEL 28/2024

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In normalen Pflege- oder Altenheimen haben sie oft wieder Angst vor Diskriminierung. Denn häufig treffen sie dort auf Menschen, in deren Köpfen noch alte Vorurteile stecken. Queere Seniorinnen und Senioren können dann in alte Muster geraten und verheimlichen ihr wahres Ich. Ältere transgeschlechtliche Personen haben zudem oft ungewöhnliche biologische Merkmale. Hier ist spezielles medizinisches Wissen erforderlich. Die jungen Auszubildenden werden in Hinblick auf die physischen und emotionalen Bedürfnisse der Menschen geschult, um sensibel auf sie eingehen zu können.

Hinzu kommt, dass sich ihre Familie oft von ihnen abgewandt hat. Und weil es sehr eingeschränkte Adoptions- oder Reproduktionsmöglichkeiten für Homosexuelle gab, haben die meisten keine Kinder. Dafür haben sie oft eine Art Wahlfamilie aus Freunden und Bekannten.

Viele bedauern, dass die Gesellschaft nicht schon vor 30 oder 40 Jahren so offen gewesen ist – dann wäre ihr Leben komplett anders verlaufen. Aber zugleich freuen sich die meisten über die positive Entwicklung und sind stolz darauf, dass sie das für die jetzige Generation erkämpft haben.«

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