Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 74 / 79

Chronist deutsch-deutscher Umbrüche Dokumentarfilmer Thomas Heise ist tot

Mit seinen Dokumentarfilmen forderte Thomas Heise Ost- wie Westdeutschland unnachgiebig zur Reflexion heraus. Im Alter von 68 Jahren starb der Berliner Regisseur und Dozent nun überraschend nach kurzer, schwerer Krankheit.
aus DER SPIEGEL 23/2024
Filmemacher Thomas Heise, 1955 -2024

Filmemacher Thomas Heise, 1955 -2024

Foto: Marcus Golejewski / ddp

Er habe seine Filme entlang der Frage konzipiert, was die Menschen in 300 oder 400 Jahren an unserer Gegenwart noch interessieren könnte, hat der Dokumentarfilmregisseur Thomas Heise einmal im Interview mit dem SPIEGEL erzählt. Dieser Ansatz war aus der Not heraus entstanden: Geboren 1955 in Ost-Berlin als Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise und der Germanistin Rosemarie Heise, studierte Heise zunächst an der Filmhochschule in Babelsberg. Wegen Konflikten mit der DDR-Zensur brach er das Studium jedoch ab. Bis zum Mauerfall arbeitete er am Theater, speziell am Berliner Ensemble, aber auch als Kartenabreißer und Eisverkäufer – und weiter als Dokumentarist. Seine Filme durften in der DDR aber nicht gezeigt werden, weshalb er anfing, seine Werke für eine weit entfernte Zukunft zu konzipieren.

Nach der Wende fanden seine Filme endlich ein Publikum, und in schneller Folge entstanden bahnbrechende Arbeiten wie »Stau – Jetzt geht’s los« von 1992, in dem Heise direkten Einblick in die jugendliche Neonazi-Szene von Halle bot. Als Chronist der deutsch-deutschen Umbrüche wurde Heise zu einer auch international viel beachteten Stimme und gewann zahlreiche Preise, darunter dreimal den Hauptpreis von DokLeipzig.

»Wer guckt schon von draußen ins Gefängnis rein«

Immer wieder beklagte Heise westdeutsche Unkenntnis und Ignoranz bezüglich des Ostens. »Wenn man im Gefängnis sitzt«, umschrieb er die Situation von DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, »will man unbedingt rausgucken, will was von der Welt mitbekommen, ist sehr aufmerksam im Sehen des Anderen. Aber wer guckt schon von draußen ins Gefängnis rein, um dort etwas anderes zu sehen?« Mit diesem Umstand habe, so Heise, das aktuelle Ost-West-Verhältnis sehr viel zu tun: »Das überwältigende, mehrheitliche Desinteresse des Westens am Osten, an allen Ländern dort und an ihrer Geschichte, auch der der DDR, muss sich endlich ändern.« Er selbst, sagte Heise, gehöre aufgrund seiner Maßregelungen durch die DDR-Obrigkeit aber weder im Osten noch im Westen richtig dazu.

Für seinen letzten Film, die essayistische Studie »Heimat ist ein Raum aus Zeit« über seine Familie, wurde er 2019 unter anderem mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Seit 2007 war er zudem als Professor tätig und lehrte in Karlsruhe, Wien und Potsdam. An der Berliner Akademie der Künste leitete er von 2018 bis 2024 die Sektion Film.

Thomas Heise starb am 29. Mai nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin.

hpi
Zur Ausgabe
Artikel 74 / 79