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Anne Orthen

Leben im Mehrgenerationenhaus »Ich teile mir mein Zuhause mit hundert Leuten«

Helena, 12, lebt mit ihrer Familie auf einem ehemaligen Rittergut in Nordrhein-Westfalen. Dort wohnen junge und alte Menschen zusammen – und helfen sich gegenseitig im Alltag.
Protokoll: Marei Vittinghoff aus Dein SPIEGEL 6/2024

Mein Zuhause liegt mitten in einem Naturschutzgebiet, das zu Düsseldorf gehört. Es gibt einen Bach, eine große Wiese, mehrere Häuser und vor allem ganz viel Platz. Ich wohne aber auch nicht nur mit meinen Eltern und meinen Geschwistern dort: Wir teilen uns das alte Rittergut mit etwa 100 anderen Leuten. Die älteste Bewohnerin ist über 90, der jüngste Bewohner noch ein Baby. Dass auf dem Gut junge und alte Menschen leben, ist absichtlich so. Wir sind ein »Mehrgenerationenhaus«. Das bedeutet, dass auf dem Grundstück verschiedene Generationen zusammenwohnen. Wenn mich jemand fragt, wie das ist, dann sage ich: ein wenig wie in einem kleinen Dorf, in dem alle sich kennen und einander helfen.

Eingezogen bin ich vor sieben Jahren. Vorher habe ich in der Stadt gewohnt, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine Schwester Mathilda ist sieben und direkt hier aufgewachsen. Außerdem habe ich noch zwei Brüder: Frederik und Lennard sind Zwillinge und drei Jahre alt. Neben meinen Geschwistern und mir leben auf dem Gut noch etwa 20 andere Kinder. Das finde ich gut, weil man so immer jemanden hat, mit dem man was machen kann. Oft spielen wir zusammen »Räuber und Gendarm« und verfolgen uns gegenseitig mit unseren Rollern über den Hof.

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Auf dem Gut wohnen aber nicht nur Familien, sondern auch Paare oder einzelne Leute. Meine kleinen Brüder sind zum Beispiel oft bei Hildegard, einer älteren Frau, die allein lebt und sich um meine Brüder kümmert, wenn meine Eltern keine Zeit haben. Meine Omas und Opas wohnen in anderen Städten, darum ist das sehr hilfreich. Ich finde sowieso, dass alle alten Leute hier richtig nett sind. Ein Paar hat meiner Freundin und mir früher immer Limonade gegeben, wenn wir geklingelt haben. Wir haben dafür auch mal geholfen und den Müll rausgebracht oder die Fenster geputzt. Manchmal passe ich für andere Eltern auch auf deren Kinder auf. Zum Beispiel auf Leo, der ist ein Jahr alt. Ich habe ihm Bücher vorgelesen und mit ihm Küche gespielt und dafür zehn Euro für ein Schulprojekt bekommen.

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So lebt es sich im Mehrgenerationenhaus

Foto: Victoria Jung / Dein SPIEGEL

Auf unserem Gut ist immer was los, vor allem samstags. Dann essen alle Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam in der »Kleinen Reithalle«. Das Gebäude heißt so, weil es früher zum Reiten genutzt wurde. Heute ist dort aber unser Aufenthaltsraum. Einmal die Woche kocht jemand für alle. Das ist freiwillig, jedes Mal ist eine andere Person dran. Meistens gibt es Sachen, die leicht für viele Leute zubereitet werden können, so wie Nudeln oder Suppe. Damit nicht einer allein spülen muss, bringen alle ihr eigenes Geschirr mit. So bleiben am Ende nur noch die großen Töpfe übrig. Weil ich Handballerin bin und oft Spiele am Wochenende habe, kann ich aber nicht immer dabei sein. Meine Woche ist generell ziemlich voll: Ich habe zweimal die Woche Training, spiele Gitarre und gehe zu den Pfadfindern.

Es gibt darum auch Tage, an denen es mich ein wenig nervt, dass auf dem Gut so viel passiert. Ich kann schlecht Nein sagen, wenn jemand bei mir klopft und fragt, ob ich Zeit hätte. Und ich habe immer Angst, etwas zu verpassen, wenn ich höre, dass andere Kinder draußen spielen und ich drinnen etwas machen muss. Eine Zeit lang hatte ich an meiner Tür deshalb ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören«. Das Gute ist, dass ich mich jederzeit in mein Zimmer zurückziehen kann, wenn ich will.

In unserem Mehrgenerationenhaus hat jede Familie ihre eigene Wohnung. Dazu gibt es Gemeinschaftsräume, in denen alles genutzt werden darf und in die man immer hineingehen kann. Am liebsten bin ich im »Tauschraum«. Das ist ein Raum, in den man etwa Kleidung bringen kann, die einem nicht mehr passt. Im Gegenzug darf man sich dann etwas anderes nehmen. Ich habe mal eine Hose mit Blumenmuster abgegeben, die ich nicht mehr mochte, weil ich sie zu bunt fand, und mir dafür eine Bluse genommen. Im Tauschraum lagern auch Schlittschuhe und Schnorchel und andere Dinge, die man nicht so oft braucht und darum gut teilen kann.

Hilfe zwischen Generationen

Während es früher normal war, dass unterschiedliche Generationen zusammenwohnen, ist das heute eher selten. Oft leben Großeltern und Enkelkinder an verschiedenen Orten. Mehr­generationenhäuser sollen helfen, dass junge und alte Leute wieder mehr Kontakt zueinander haben. Sie sollen aber auch dazu beitragen, dass die verschiedenen Generationen sich in Zukunft besser unterstützen können. Das ist wichtig, denn die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert sich.

In Deutschland wird es in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich mehr alte und weniger junge Menschen geben. Das hängt damit zusammen, dass die Menschen in Deutschland im Durchschnitt älter werden und zugleich weniger Kinder pro Jahr geboren werden. Wenn Forschende über diese Entwicklung sprechen, dann verwenden sie den Begriff »demografischer Wandel«. Bereits heute ist jede zweite Person in Deutschland älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre.

Daraus ergibt sich ein Problem: Es müssen mehr alte Menschen gepflegt werden, es gibt jedoch weniger junge Menschen, die sie pflegen können. In vielen Altenheimen fehlen schon jetzt Pflegekräfte. Mehrgenerationenhäuser allein können das Problem nicht lösen, weil für professionelle Pflege ausgebildete Leute nötig sind. Aber die Unterstützung durch junge Menschen kann den Alltag der Alten zumindest erleichtern. Und auch die Jungen profitieren, etwa durch Hilfe bei der Kinderbetreuung.

Alle vier Wochen gibt es auf dem Gut ein Plenum, also eine Versammlung, bei der sich alle Bewohnerinnen und Bewohner treffen, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, ob auf dem Grundstück neue Bäume gepflanzt werden sollen oder nicht. Das Plenum ist nur für Erwachsene, seit Kurzem gibt es aber auch ein Plenum für Kinder. Alles, was wir dort besprechen, wird auch von den Erwachsenen besprochen. Zuletzt haben wir vorgeschlagen, dass es mehr Aktivitäten für Kinder geben soll, und dann haben die Erwachsenen eine Nachtwanderung organisiert, auf der wir Marshmallows gegessen haben.

Es gibt viele Aktionen für alle Bewohnerinnen und Bewohner. Im Sommer planen immer ein paar Leute ein Open-Air-Kino auf der Wiese. Und auch vor den Feiertagen machen wir meistens etwas zusammen. Im vergangenen Jahr haben wir vor Weihnachten eine Wunschaktion gemacht: Alle durften einen Wunsch auf eine Kugel schreiben, und jemand anderes hat ihn dann erfüllt. Eine ältere Person hat sich zum Beispiel gewünscht, dass jemand ihr hilft, ein paar Apps auf das Handy zu laden, und ein Kind, dass jemand mit ihm mit Kreide malt. Ich selbst habe mir gewünscht, dass jemand mich zu einem Handballspiel begleitet. Regina, eine ältere Frau, ist dann zu einem meiner Spiele gekommen und hat mich angefeuert. Das fand ich richtig cool.

Dieser Artikel erschien in »Dein SPIEGEL« 6/2024.

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