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In eigener Sache Über unsere Rammstein-Berichterstattung

Gerade wird viel über die Veröffentlichungen zum Fall Rammstein diskutiert, auch über die des SPIEGEL. Wir machen den Beschluss des Landgerichts Hamburg dazu transparent und erklären unsere Sicht darauf.
Rammstein-Sänger Till Lindemann

Rammstein-Sänger Till Lindemann

Foto: Christoph Soeder / picture alliance / dpa

Liebe SPIEGEL-Leserinnen,
liebe SPIEGEL-Leser,

gerade wird viel über die Berichterstattung rund um den Fall Rammstein diskutiert, auch über die des SPIEGEL. Insbesondere, seit das Landgericht Hamburg vor Kurzem einen ersten Beschluss über die SPIEGEL-Titelrecherche  gefasst hat und es dazu Berichterstattung gab, leider auch sehr einseitige. Wir veröffentlichen deswegen hier den Beschluss des Gerichts vom 14. Juli 2023, um Transparenz herzustellen. Außerdem finden Sie hier die Sicht des SPIEGEL auf die Dinge:

Das Landgericht Hamburg hat dem Unterlassungsantrag von Till Lindemann in Teilen stattgegeben, ihn aber auch in weiten Teilen zurückgewiesen, also uns recht gegeben. Der Kern unserer Berichterstattung bleibt deshalb davon unberührt.

Uns wurde etwa nicht verboten, darüber zu berichten, dass Lindemann über Jahre hinweg eine Vielzahl von jungen Frauen über ein perfides und ausgeklügeltes Casting-System zum Sex zugeführt wurden, die teilweise schwer betrunken waren. Wie wir sieht das Gericht hier ein hohes Informationsinteresse.

Das Landgericht hält ausdrücklich fest, dass wir durch mehrere eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemacht haben, »dass die Teilnehmerinnen dieser Partys von dem Antragsteller selbst nach Sex gefragt wurden und dass es auch zu Sex mit den Teilnehmerinnen gekommen ist, dass dieser unstreitig in einer eigens dafür vorgehaltenen Vorrichtung hinter/unter der Bühne mit Teilnehmerinnen der Row Zero Sexualkontakte hatte«.

Außerdem haben wir laut Gericht glaubhaft gemacht, also ausreichend belegt, dass es ein System gibt, »bei dem Frauen für die Row Zero bzw. entsprechende Partys mit der Band des Antragstellers rekrutiert wurden, bei welchen es jedenfalls reichlich Alkohol gab und bei denen sexuelle Kontakte des Antragstellers mit den rekrutierten Frauen üblich waren. Dass eine Band ein solches System unterhält, ist ein Vorgang von hohem öffentlichem Interesse, der besonders bemerkenswert ist.«

Auch die detaillierten Schilderungen der Erlebnisse zweier Frauen, die in diesem System gecastet wurden, sind laut Gericht zulässig. Die Passagen erfüllen laut dem Richter und den Richterinnen alle Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung.

Die Anwälte von Till Lindemann, der im Übrigen für seine Version der Geschehnisse keine eidesstattliche Versicherung abgegeben hat, sagen, dass unser Text die Intimsphäre ihres Mandanten verletzt habe. Das Landgericht Hamburg sieht das – wie wir – anders und begründet ausführlich, warum das nicht so ist. Darauf, dass die Vorwürfe nicht die Intimsphäre verletzen, können sich nun auch andere Medien berufen.

Neben zwei kleineren Punkten kam das Landgericht Hamburg nur bei einem der vielen relevanten Sachverhalte, die in unserem Titelstück enthalten sind, zu einer anderen Bewertung als wir. Das Gericht findet, dass wir für den vermeintlichen Vorwurf des »Spikings« durch Till Lindemann keine hinreichenden Anknüpfungstatsachen vorgetragen hätten. Das heißt, dass wir ihrer Meinung nach nicht genügend Indizien beigebracht haben, um darüber berichten zu dürfen, dass Frauen sagen, ihnen sei von Lindemann oder auf sein Geheiß hin vermutlich ein Drink gegeben worden, der mit Drogen versetzt war. Die Unzulässigkeit der Verbreitung dieses Verdachts ergebe sich dabei, so das Landgericht, nur aus einer Gesamtschau mehrerer Passagen, also dem Kontext. Die einzelnen Schilderungen der Frauen würden »jeweils für sich genommen den angegriffenen Verdacht nicht transportieren«.

Wir sind dagegen der Ansicht, dass wir einen entsprechenden Verdacht schon überhaupt nicht erweckt haben. Wir haben von Vermutungen einzelner Frauen berichtet, dass sie auf Rammstein-Partys »gespiked« worden sein könnten, wobei diese (bis auf eine) noch nicht einmal konkret vermutet haben, dass Herr Lindemann dahinterstecken könnte. Das ist ein Unterschied, denn bei Vermutungen handelt es sich auch juristisch erst einmal grundsätzlich um freie Meinungsäußerungen und nicht um Behauptungen, dass ein konkreter Verdacht besteht.

Gegen das ergangene Teilverbot werden wir uns nun umfassend zur Wehr setzen, wir haben bereits Widerspruch eingelegt. Insgesamt befindet sich das Verfahren ohnehin in einem Frühstadium, es ist noch nicht einmal in erster Instanz abgeschlossen. Nach dem von uns eingelegten Widerspruch wird voraussichtlich in einigen Wochen überhaupt eine erste mündliche Verhandlung stattfinden. Aller Voraussicht nach folgen darauf mehrere Instanzen, sowohl im Eil- als auch im Hauptsacheverfahren.

Falls nötig, beschreiten wir den Rechtsweg auch bis zum Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Der SPIEGEL hat schon des Öfteren einen langen Atem bewiesen – und war dabei viele Male erfolgreich. Denn die Instanzgerichte in den Ebenen darunter überspannen häufiger mal die Anforderungen an Verdachtsberichterstattung zum Teil deutlich, befand auch Karlsruhe immer wieder.

In der Zwischenzeit respektieren wir das Teilverbot des Landgerichts selbstverständlich, es ist aber, wie gesagt, nur vorläufig. Der Beitrag ist mit den gebotenen Änderungen weiter online abrufbar.

Tatsächlich ist es so, dass unterschiedliche Land- und Oberlandesgerichte unterschiedlich strenge Anforderungen an Verdachtsberichterstattung stellen. Mutmaßliche Täter und ihre Anwälte können sich aus rund 115 Landgerichten ein beliebiges herauspicken und wählen wenig überraschend tendenziell eher strenge Pressekammern aus.

Das Landgericht Hamburg nimmt dabei regelmäßig sogar Unterlassungsanträge an, die von anderen Landgerichten bereits abschlägig beschieden wurden, also Fälle, in denen die Antragsteller in einem ersten Anlauf erfolglos waren. Im Fall Luke Mockridge beispielsweise hatte die Pressekammer des LG Köln unsere Berichterstattung über den von der Ex-Freundin erhobenen Verdacht der versuchten Vergewaltigung bereits komplett für zulässig erachtet. Dann zog die von Mockridge beauftragte Kanzlei, die nun auch von Lindemann beauftragt wurde, vor das Landgericht Hamburg – was dann deutlich restriktiver entschied. Eine äußerst unübliche Praxis, gegen die sich der SPIEGEL mittlerweile auch wehrt.

In den vergangenen Jahren haben wir als SPIEGEL zudem viele #MeToo-Recherchen veröffentlicht, die von Gerichten als zulässig beurteilt wurden – oder die gar nicht erst juristisch beanstandet wurden. Hier nur ein paar Beispiele: Unsere Berichterstattung über mutmaßlichen Machtmissbrauch am Kölner Schauspiel, beim Gorki-Theater oder beim WDR. Über Missstände im Turnen, Leistungsschwimmen sowie Frauenhandball. Und über mutmaßliche Belästigungen durch einen Berliner Arzt und HIV-Experten. Hinzu kommen unsere gerichtlichen Erfolge gegen die Journalisten Julian Reichelt und zuletzt Finn Canonica, der die Vorwürfe zwar weiter bestreitet, aber seinen Verfügungsantrag beim LG Hamburg vor Kurzem komplett zurückgenommen hat. Auch die jüngste Berichterstattung über den Sternekoch Christian Jürgens wurde vom LG Hamburg in ihrem Kern für zulässig erachtet. Wir berichten über unsere juristischen Erfolge allerdings nicht so marktschreierisch, wie es im umgekehrten Fall häufig diejenigen tun, zu denen wir recherchiert haben.

Für uns als SPIEGEL ist klar: Bei sexualisierter Gewalt und strukturellem Machtmissbrauch handelt es sich um ein drängendes gesellschaftliches Problem, das quasi alle Branchen durchzieht. Darüber werden wir aufgrund des überaus hohen Informationsinteresses weiterhin berichten – unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der Unschuldsvermutung, wie wir es unserer Überzeugung nach auch bisher getan haben.

Die Presse hat nicht nur eine sogenannte Wachhundfunktion, sondern ist nach dem Leitbild des Bundesverfassungsgerichts auch Medium und Faktor der Meinungsbildung. Es ist daher die verfassungsgemäße Aufgabe der Presse, über entsprechende Missstände – auch bereits im Verdachtsstadium und auch gegen entsprechende Widerstände – zu berichten.

Dass es Gegenströmungen und Medien gibt, denen diese Form der Berichterstattung sowie entsprechende gesellschaftliche Debatten drum herum ein Dorn im Auge sind, wird uns davon nicht abhalten. Die zunehmend unsachlichen Einschüchterungsversuche gegenüber Medien und insbesondere gegenüber Betroffenen sowie das teilweise erschreckende, unverhohlene »Victim Blaming« sowie die vielfach misogynen Argumentationsmuster – auch im Rahmen der Rechtsverteidigung – haben allerdings inzwischen ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht.

Ins Bild passen da übermotivierte Pressestatements von Anwaltskanzleien, die sich auf die Vertretung mutmaßlicher Täter spezialisiert haben und auf dem eng umkämpften Markt um Aufmerksamkeit und neue Mandate buhlen.

Die jüngste Pressemitteilung  der von Lindemann beauftragten Kanzlei Schertz Bergmann ist obendrein handwerklich schlampig formuliert worden. Denn darin steht unter anderem, dass wir zwei falsche Tatsachenbehauptungen im Text hätten, die uns das Landgericht Hamburg untersagt habe – was nicht stimmt. Nachdem sich die Kanzlei geweigert hat, dies von sich aus zu korrigieren, gehen wir nunmehr rechtlich gegen die Pressemitteilung vor.

Das ist auch insofern bemerkenswert, als die Kanzlei dem SPIEGEL jüngst öffentlich und wider besseres Wissen vorgeworfen hatte, wir würden bei Fehlern stets uneinsichtig sein. Das ist Unsinn: Just gegenüber der genannten Kanzlei haben wir beispielsweise einen Fehler in dem Rammstein-Titelstück sofort eingestanden, transparent korrigiert und eine Unterlassung dazu abgegeben: Irrtümlich hatten wir geschrieben, dass die Kanzlei die Band Rammstein vertrete. Tatsächlich vertritt sie aber nur Till Lindemann.

Anmerkung der Redaktion: Das Landgericht Hamburg hatte in Unkenntnis des gesamten Sachverhalts den Erlass einer Unterlassungsverfügung gegen die Pressemitteilung zunächst abgelehnt, was der Kanzlei Schertz Bergmann wiederum unverzüglich eine eigene, immer noch (Stand 1. September 2023) abrufbare Pressemitteilung  wert war und vielfach Verbreitung fand (z.B. hier  oder hier ). Nach unserer sofortigen Beschwerde hat das Landgericht nun aber seine eigene Entscheidung revidiert und die Verfügung erlassen, die Pressemitteilung der Kanzlei Schertz Bergmann zum Verfahren Lindemann gegen den SPIEGEL ist nicht mehr abrufbar. Selbstverständlich kann die Kanzlei Schertz Bergmann nun gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg Rechtsmittel einlegen.