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Der Hirte Józef Golicza, 28, liegt neben einem seiner Pferde. Er hat sich auf das natürliche Dressieren von Pferden spezialisiert, das nicht durch Zwang, sondern durch den Aufbau einer engen Beziehung zum Tier funktioniert.

Der Hirte Józef Golicza, 28, liegt neben einem seiner Pferde. Er hat sich auf das natürliche Dressieren von Pferden spezialisiert, das nicht durch Zwang, sondern durch den Aufbau einer engen Beziehung zum Tier funktioniert.

Foto: Gemma Miralda

Alltag der Székler in Rumänien Auf dem Rücken der Pferde bewahren sie ein Stück Erde

Mit ihrer traditionellen Lebensweise sorgen die Székler dafür, dass Transsylvaniens Wälder bis heute ihre Vielfalt bewahrt haben. Das System der gemeinsamen Landverwaltung hat den Kommunismus überstanden – und ist jetzt dennoch bedroht.

Bei Vollmond versammeln sie sich an den Quellen von Dungó Feredő, von denen manche sagen, dass sie heilig seien. Einige baden dann im kalten Wasser, andere versammeln sich am Lagerfeuer, trinken Pálinka und schauen andächtig in den klaren, kalten Sternenhimmel.

»Ein Dorf ist mehr als seine Einwohner«, sagt Csaba Orbán. »Die Grenzen einer Gemeinschaft werden nicht nur durch ihre Lage bestimmt, sondern auch durch Traditionen und spirituelle Werte.«

Der 68-Jährige ist der Präsident der Közbirtokosság dreier umliegender Dörfer. Ein Gremium von fünf Männern, eine Art Ältestenrat, der hier das Land im Gemeineigentum verwaltet. Wenn sie sich irgendwo versammeln, brauchen sie stets zwei Flaggen. Die von Ungarn und die der Székler. Der was?

Vielleicht kann man es so umreißen: Die Székler sind eine ungarischsprachige Volksgruppe, die sich im 12. Jahrhundert in Transsylvanien niederließ. Die Region gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum ungarisch geprägten Teil des k.u.k. Reiches und wurde danach Teil des heutigen Rumänien. Trotz aller historischer Herausforderungen vor und nach dem Kommunismus gibt es sie noch immer. Mit ihrer Art, diesen Fleck Erde zu verwalten, sorgen die Székler dafür, dass nicht nur ihre Kultur erhalten bleibt, sondern auch die Umwelt geschützt wird. Inzwischen gelten sind als Vorbilder für andere Gemeinschaften in Europa. Die Fotografin Gemma Miralda hat sie zweimal für je mehrere Wochen begleitet, ihren Alltag und ihre Lebensweise dokumentiert, mit ihnen über die Zukunft gesprochen. »Was mich am meisten beeindruckt hat«, sagt Miralda, »ist, wie selbstbestimmt und eigenständig die Székler bis heute leben.«

Ein weißer Storch sitzt in seinem Nest. Die Vogelpopulation wächst hier. Störche werden als gutes Omen angesehen.

Ein weißer Storch sitzt in seinem Nest. Die Vogelpopulation wächst hier. Störche werden als gutes Omen angesehen.

Foto: Gemma Miralda

Die Közbirtokosság also ist so was wie das Herzstück dieser eigenständigen Lebensweise, denn sie kontrolliert das Land der Gemeinden hier. Deshalb gehört es allen und gleichzeitig niemandem allein. Keine Familie darf mehr als fünf Prozent der Ländereien besitzen, in jedem größeren Dorf oder in jeder Gemeinschaft kleinerer Dörfer gibt es eine Versammlung, die die Besitzverhältnisse und das gemeinsame Einkommen regelt. Die gemeinschaftliche Landverwaltung der Székler ist in Rumänien gesetzlich verankert, sie kümmert sich um Wälder, Weiden und Wasserquellen in den Dörfern.

Das altertümliche System und die gemeinsame Sprache halten die Gemeinschaft zusammen, die Székler leben ein traditionelles Leben in einer modernen Welt. Auf den 1098 Hektar von Karáksonyfalva betreiben sie Forstwirtschaft, kümmern sich um Vieh und gehen auf die Jagd. In den vergangenen Jahren ist das nicht leichter geworden.

Eine Gruppe Jugendlicher läuft durch die Ocland-Gemeinde

Eine Gruppe Jugendlicher läuft durch die Ocland-Gemeinde

Foto: Gemma Miralda
Csaba Orbán, 68, trägt die traditionelle Tracht der Székler. Er ist der spirituelle Anführer seiner Gemeinde und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kultur und Traditionen zu bewahren. Rechts alte Holzgebäude, in denen Tiere untergebracht werden.

Csaba Orbán, 68, trägt die traditionelle Tracht der Székler. Er ist der spirituelle Anführer seiner Gemeinde und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Kultur und Traditionen zu bewahren. Rechts alte Holzgebäude, in denen Tiere untergebracht werden.

Foto: [M] DER SPIEGEL; Gemma Miralda

In Transsylvanien gibt es bis heute Braunbären, seitdem die Jagd auf sie verboten wurde, hat sich ihre Zahl rasant vergrößert. In ganz Rumänien soll es heute wieder 7500 bis 8000 Tiere geben; ein Großteil davon lebt hier. Allein auf der Lichtung in der Nähe von Karáksonyfalva zählen sie täglich etwa sechs. Die Székler kennen ihre Spuren, sie wissen, an welchen Steinen die Bären ihre Krallen wetzen und wie es aussieht, wenn sie über den weichen Boden gestapft sind.

Eine Bärenmutter und ihr Junges streifen durch den Wald. Der Bär ist ein Jäger ohne natürliche Feinde. Seine Population ist seit dem Jagdverbot stark angewachsen.

Eine Bärenmutter und ihr Junges streifen durch den Wald. Der Bär ist ein Jäger ohne natürliche Feinde. Seine Population ist seit dem Jagdverbot stark angewachsen.

Foto: Gemma Miralda
Levente Balazs ist Holzfäller. Holz ist noch immer die Hauptwärmequelle der Székler im Winter.

Levente Balazs ist Holzfäller. Holz ist noch immer die Hauptwärmequelle der Székler im Winter.

Foto: Gemma Miralda

Für die Jäger der Székler heißt das trotzdem, dass sie wenig zu tun haben. Seitdem der Bär zurück ist, dürfen die Menschen in der Region jedes Jahr nur noch wenige Tiere schießen. In den vergangenen Jahren sind viele Jagdausflüge zu Naturbeobachtungen geworden. Nur die aufbewahrten Schädel der Tiere sowie von Hirschen und Wölfen erinnern in den alten, krummen Häusern daran, dass es einmal anders war.

Mátyás Öcsi, 72, posiert in seinem Haus inmitten von Schädeln und Häuten von Tieren, die er in der Vergangenheit jagte

Mátyás Öcsi, 72, posiert in seinem Haus inmitten von Schädeln und Häuten von Tieren, die er in der Vergangenheit jagte

Foto: Gemma Miralda

Tiere spielen heute vor allem in der Landwirtschaft eine Rolle. Viele Höfe halten Kühe und Wasserbüffel. Pferde helfen, das geschlagene Holz aus den Wäldern zu bringen. Die festgelegten Quoten sorgen dafür, dass die Natur nicht blindlings kahl geschlagen wird. Viele Bäume in den Wäldern um die Dörfer der Székler sind Rotbuchen, nicht selten 120 bis 200 Jahre alt. Das langsame Tempo der Forstwirtschaft sorgt dafür, dass die Natur sich regenerieren und anpassen kann. Die Wälder sind gemeinsamer Lebensraum, keine Plantagen.

Kühe kehren nach einem Tag auf der Weide ins Dorf zurück

Kühe kehren nach einem Tag auf der Weide ins Dorf zurück

Foto: Gemma Miralda
Dénes Benedek ist Viehwirt und Mitglied der Közbirtokosság. Agnes Benedek (r.) hält ein Huhn ihres Hofes.

Dénes Benedek ist Viehwirt und Mitglied der Közbirtokosság. Agnes Benedek (r.) hält ein Huhn ihres Hofes.

Foto: [M] DER SPIEGEL; Fotos: Gemma Miralda
Der Schäfer Daia Székelydálya auf der Weide. Schafe sind nach den Kühen die wichtigsten Tiere der Gemeinden.

Der Schäfer Daia Székelydálya auf der Weide. Schafe sind nach den Kühen die wichtigsten Tiere der Gemeinden.

Foto: Gemma Miralda

Die Regeln der Közbirtokosság sollen dafür sorgen, dass Einkünfte gerecht verteilt werden. Die Arbeitsplätze im Forst und auf den Weiden werden von der Gemeinschaft vergeben; Einkünfte aus der genossenschaftlichen Molkerei werden nach einem festen Schlüssel verteilt. Auch Familien ohne Vieh können so einen Anteil an den Einnahmen erhalten. Wer seine Anteile nicht nutzt, kann sie im begrenzten Umfang an andere abtreten.

Das System lässt sich viele Jahrzehnte zurückverfolgen, die ältesten noch erhaltenen Dokumente reichen bis in die Zeit vor dem Kommunismus. Im Kommunismus war für die Regeln der Közbirtokosság kein Platz. Doch dank der dicht beschriebenen Blätter war es im Jahr 2000 möglich, das alte System wiederherzustellen, die alten Anteile früherer Generationen wurden an heutige Familien vererbt.

Judit Szadó, 60, und ihre Mutter Apollina Szadó, 86 posieren in ihrem Esszimmer. Sie kämpften für die Wiedereinführung der Közbirtokosság nach dem Kommunismus.

Judit Szadó, 60, und ihre Mutter Apollina Szadó, 86 posieren in ihrem Esszimmer. Sie kämpften für die Wiedereinführung der Közbirtokosság nach dem Kommunismus.

Foto: Gemma Miralda

Apollonia Szadó ist heute 86 Jahre alt, sie hat lange dafür gekämpft, dass das alte System wieder in Kraft treten darf. Sie ist eine stolze Frau mit einem wachen und strengen Blick. In ihrem Wohnzimmer ist fast alles gemustert mit Blumen, die Tapete, der Teppich, die Sofaüberwürfe. Ihre Bluse natürlich sowieso. Mit der Közbirtokosság habe man das ganze Jahr über Holz, erzählt sie. Sie fühle sich sicher, die Verwaltung sei transparent und vertrauenswürdig. »Mit privatem Landbesitz wäre es nicht dasselbe«, davon ist sie überzeugt.

Ihr Vater trug einst die Verantwortung, die Anteile aller Nachbarn zu registrieren. In den Jahren des Kommunismus versteckte sie die Dokumente in ihrem Haus, so wie es die Älteren ihr aufgetragen hatten.

So sicher sie durch die Vergangenheit kamen, so unsicher ist dennoch die Zukunft der Székler. Auch in Transsylvanien wollen junge Menschen nicht länger auf dem Acker stehen, sondern in die Stadt ziehen. Die Székler teilen sich seit jeher auf zwei Kirchen auf, eine katholische und eine unitarische. Manche Gebäude stammen noch aus früheren Jahrhunderten. Doch wenn am Sonntag die Glocken läuten, sind es überall vor allem die Alten, die kommen.

Mihály Benedek leitet eine Sonntagsmesse in der Unitarier-Kirche. An den Wänden befinden sich Gemälde aus dem 14. Jahrhundert.

Mihály Benedek leitet eine Sonntagsmesse in der Unitarier-Kirche. An den Wänden befinden sich Gemälde aus dem 14. Jahrhundert.

Foto: Gemma Miralda

Inzwischen kümmert sich Csaba Orbán, der Präsident der Közbirtokosság, viel darum, Familien in der Ferne zu erreichen und sie dazu zu bewegen, wieder zurückzukommen oder zumindest ihre Anteile abzugeben. »Wir versuchen, mit den Veränderungen in der Welt so umzugehen, dass unsere Werte dabei nicht verloren gehen«, sagt Orbán.

Besucherinnen der Quellen von Dungó Feredő cremen sich mit Schlamm ein. Dieser soll wie auch das Wasser Heilkräfte besitzen.

Besucherinnen der Quellen von Dungó Feredő cremen sich mit Schlamm ein. Dieser soll wie auch das Wasser Heilkräfte besitzen.

Foto: Gemma Miralda

Auch das gemeinsame Bad bei Vollmond an den Quellen von Dungó Feredő sei wichtig für den Zusammenhalt, sagt er. Alle können jederzeit hierherkommen, es gibt neben den kalten Becken auch beheizte, der Schlamm aus der Umgebung gilt traditionell als heilsam, genau wie das Wasser. »Wir hoffen, dass uns diese Tradition wieder zusammenführt.«

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.

jpe