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Grachten in der Innenstadt: Amsterdam ist eins der beliebtesten Ziele von Touristen

Grachten in der Innenstadt: Amsterdam ist eins der beliebtesten Ziele von Touristen

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL

Nachhaltige Stadtentwicklung Wie Amsterdam sich vor den Touristen retten will

Lange war Amsterdam ein Ziel für Partyfreudige aus aller Welt. Jetzt will sich die Stadt neu erfinden: Bordelle sollen in Sozialwohnungen umgewandelt werden, Süßwarenshops in Supermärkte. Lässt sich der Massentourismus so zähmen?
Aus Amsterdam berichten Jan Petter und Marieke van der Velden (Fotos)

Ronald Wiggers kauft Bordelle. Hinter den Fensterfronten mit den roten Lampen in Herzfrom verbergen sich Betten; jeder dieser Arbeitsplätze bringt über die Jahre Hunderttausende Euro ein. Das treibt den Preis. Wiggers ist kein Zuhälter, ganz im Gegenteil: Er möchte das Rotlichtmilieu aus den Grachten verdrängen. Er verwandelt die Etablissements in Sozialwohnungen und Modegeschäfte. Bereits vor 20 Jahren beauftragte die Stadt ihn, unterstützt von zwei Pensionsfonds. Es entstand eine ungewöhnliche Private-Public-Partnership. Wiggers versicherte allen, dass es ein lukratives Geschäft werde.

»Ich habe als Steueranwalt angefangen – heute habe ich zwei Jahrzehnte Milieu-Erfahrung«, sagt er. Wiggers strahlt Gelassenheit aus, zum Treffpunkt kommt er in grauer Anzughose und etwas zu enger Trainingsjacke, unter der sich ein Bigpack Zigaretten abzeichnet. Er legt Wert auf Blickkontakt und verbindliche Worte. »Meine Gesprächspartner sind tief im Rotlicht. Um mit dieser Klientel zurechtzukommen, muss man ein ruhiger Typ sein.«

In den Gassen um den Oudekerksplein hat seine Firma Stadsgoed bisher 15 Bordelle gekauft. Den Besitzern bietet das die Möglichkeit zum Ausstieg. Dank der Wertsteigerungen sollen sich die Investitionen mittelfristig lohnen. Wiggers selbst sieht die Prostitution kritisch, er sagt, es gehe ihm auch darum, Menschenhandel zu verhindern.

De Wallen ist seit Jahrhunderten das Rotlichtviertel von Amsterdam. Die angeblich weltweit erste Statue für Prostituierte steht hier, gleich vor der alten Kirche. Es ist das Herz der niederländischen Hauptstadt: ein einziger großer Puff, ein Labyrinth aus zwielichtigen Salons und billigen Erotikshops. Früher verkehrten hier Matrosen und Soldaten. Heute kommen ganze Familien zum Gaffen, wie in einem Menschenzoo.

Ronald Wiggers kauft Bordelle: Die Innenstadt soll wieder eine lebenswerte Wohngegend werden

Ronald Wiggers kauft Bordelle: Die Innenstadt soll wieder eine lebenswerte Wohngegend werden

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL

Nicht zuletzt mit Wiggers’ Hilfe könnte gelingen, was bisher unmöglich schien: Amsterdam vor dem Partytourismus zu retten und die Innenstadt wieder in eine lebenswerte Wohngegend zu verwandeln.

Amsterdam gehört zu den beliebtesten Touristenzielen auf der Welt, über 20 Millionen Übernachtungen verzeichnen die Hotels jährlich, Airbnb nicht eingerechnet. Die meisten Besucherinnen und Besucher stammen aus Großbritannien, den USA und Deutschland. Als »moral holiday« beschreiben manche den Aufenthalt. Als Urlaub, frei von allen sonst üblichen Regeln. Lange war hier möglich, was andernorts undenkbar wäre: Sex, Rausch, Enthemmung.

Es ist wohl kein Zufall, dass das Wort Overtoerisme 2017 erstmals in einer niederländischen Zeitung auftauchte. Vom Unesco-Paradoxon spricht Amélie Strens, liberale Stadtteilbürgermeisterin. Denn Amsterdams Zentrum ist Weltkulturerbe. »Die Orte auf unserer Welt, die wir schützen wollen, sind oft die, die wir durch Tourismus besonders zerstören.«

Wer durch die denkmalgeschützte Prinsengracht schlendert, ahnt, was sie meint. Das Anne-Frank-Haus gilt bei Tripadvisor als Topattraktion, noch vor dem Van-Gogh-Museum und der Heineken-Experience, einem Biermuseum. Vor dem Namensschild steht ein Familienvater aus den USA und macht Erinnerungsfotos seiner Töchter. »Don’t forget to smile«, ruft er. Rings herum liegen Leihfahrräder in den Hecken. Die Luft riecht süßlich nach Marihuana; junge Männer fahren mit Bierdosen in der Hand grölend auf kleinen Booten vorbei.

Touristengruppe im Zentrum: 20 Millionen Übernachtungen im Jahr

Touristengruppe im Zentrum: 20 Millionen Übernachtungen im Jahr

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL
Anwohner Ine Poppe und Sam Nemeth: »Es geht nur noch ums Geld«

Anwohner Ine Poppe und Sam Nemeth: »Es geht nur noch ums Geld«

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL

Ine Poppe und ihr Mann Sam Nemeth leben keine 250 Meter Luftlinie entfernt. Sie ist Künstlerin, er Dozent. Beide sind so, wie man sich Niederländer gern vorstellt: herzlich, unkompliziert, unerschrocken. Sie lachen viel. Klassische Nimbys (»not in my backyard«) stellt man sich anders vor. Doch sie sind erschöpft. »Es ist zu viel«, sagt sie. »Es ist viel zu viel«, ruft er. »Es geht nur noch ums Geld.«

Beide leben seit über 30 Jahren in einer kleinen Wohnung unter dem Dach im Zentrum. Jeder freie Meter ist gefüllt mit Büchern, kleinen Kunstwerken oder alten Fotos. Poppe und ihr Mann waren einst in der Hausbesetzerszene. Heute sagt sie, nutze sie die alten Kontakte, um noch an Atelierräume zu kommen. Überall spüre sie die Veränderung. Die Pizzeria am Eck etwa sei mal ein netter Ort gewesen. Heute lasse der Betreiber von halb neun morgens bis nachts um drei durcharbeiten und sich selbst kaum mehr blicken. Das Fenster könne man nicht mehr aufmachen. Den ganzen Tag plärre die gleiche Musik.

Der Gehweg ist seit der Pandemie mit Stühlen verrammelt. Nachts urinieren Betrunkene in die Blumentöpfe vor dem Haus. »Es ist eine Touristenfalle geworden – so wie unsere ganze Stadt«, sagt Nemeth beim Abendessen und sie nickt.

Auch ihren Nachbarn geht es so, inzwischen haben sie eine kleine Gruppe gegründet. »STOP mass tourism« steht auf einem roten Plakat, das an der Glastür im Eingang hängt. In der ganzen Innenstadt gibt es jetzt solche Initiativen und ähnliche Poster. Die Stadt unterstützt sie, in dem sie unter anderem Räume bereitstellt.

Einkaufsmeile Warmoesstraat: Nutella- und Zuckerwatteshops

Einkaufsmeile Warmoesstraat: Nutella- und Zuckerwatteshops

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL

Städten wie Paris, Barcelona oder Venedig erging es in den letzten 15 Jahren ähnlich wie Amsterdam. Billige Flüge und Airbnb haben den Tourismus schneller, billiger und individueller gemacht. Inzwischen scheint der Zenit überschritten; die Preise steigen; für das Vermieten von privaten Wohnungen gibt es vielerorts strengere Regeln. Und doch steuern viele Städte in diesem Sommer auf neue Besucherrekorde zu.

Doch in Amsterdam könnte sich jetzt eine Trendwende abzeichnen, die Stadt könnte zum möglichen Vorbild für andere werden. Anstatt sich in Grundsatzdiskussionen zu verlieren, hat Amsterdam eine Vielzahl von kleineren Schritten gegen den Massentourismus ergriffen. Kreuzfahrtschiffe müssen seit diesem Jahr 14 Euro pro Nacht und Gast zahlen; die Schließung des zentrumsnahen Anlegers ist bereits beschlossen. Bis 2028 soll sich die Zahl der Flusskreuzfahrten halbieren. Die Hotelsteuer liegt seit Jahresbeginn bei 12,5 Prozent. Neue Hotels werden nicht mehr genehmigt. Das Stadtmarketing wurde praktisch eingestellt.

Weitere Maßnahmen zielen auf das Verhalten der Gäste ab. Vergangenes Jahr erregte die Stadt Aufsehen, indem sie in Großbritannien Werbespots gegen den Partytourismus junger Männer schaltete. Untersuchungen hatten zuvor gezeigt, dass Briten zwischen 18 und 35 oft für Belästigungen verantwortlich waren. Kiffen ist im Zentrum nun verboten. Restaurants müssen nachts früher schließen. Der Alkoholverkauf in Supermärkten ist von Donnerstag bis Sonntag eingeschränkt. Große Banner warnen vor den 100 Euro Strafe für Wildpinkeln. Das Rotlichtviertel soll verkleinert und an den Stadtrand verlagert werden.

Um Touristen ins Umland zu locken, setzt die Stadtverwaltung bisweilen auch auf Tricks. Das Schloss Muiderslot wird inzwischen als »Amsterdam Castle« beworben, der Strandort Zandvoort präsentiert sich international als »Amsterdam Beach«. Es sind Maßnahmen, die wenig kosten und im Idealfall den Wohlstand in der Region mehren.

Allein lösen kann die Stadt ihre Probleme mit den Partytouristen aber nicht. Der Boom von Drogen wie Kokain ist ein europaweites Problem. Die Zahl der Flüge am Airport in Schiphol hängt auch von der neuen, rechten Regierung der Niederlande ab. Sollte das Kabinett wie geplant Umweltauflagen lockern, könnten bald wieder mehr Touristen kommen.

Auch deshalb spricht Stadtteilbürgermeisterin Amélie Strens lieber von den vielen kleinen Schritten. »Wir haben verstanden, dass wir uns auch selbst verändern müssen.« Strens sagt, dass sie 80 Prozent ihrer Arbeitszeit den Folgen des Tourismus widme. Die Hälfte ihrer Tage verbringt sie nicht mehr im Büro, sondern in den Straßen, um alltägliche Probleme zu diskutieren.

Insgesamt handelt es sich um einen pragmatischen und typisch niederländischen Ansatz: Wo sonst beauftragt eine Stadtverwaltung einen Anwalt, mit Pensionsfondsgeldern und öffentlicher Förderung Bordelle aufzukaufen? Ein großer Masterplan wurde hier absichtlich nicht ausgerufen, niemand stellt in Aussicht, der Tourismus lasse sich ganz abschütteln.

In Barcelona versprach die linksgrüne Stadtregierung einst, den Massentourismus per Direktive einzudämmen und das Zentrum in verkehrsberuhigte Superblocks zu verwandeln. International löste das Begeisterung aus; jahrelang berichteten Medien enthusiastisch. Doch vor Ort verhedderte man sich in Kulturkämpfen, die schließlich mit dem geplanten Rückbau der Verkehrsinseln endeten. Verändert wurde außer einigen Straßenecken in vielen Jahren kaum etwas.

Strens setzt auf kleinteiligere Veränderungen. Seit einigen Jahren gibt es sogenannte Gebiedsmakelaars, Ansprechpartner für verschiedene Kieze. Ihre Arbeit bricht mit der klassischen Verwaltungslogik: Anstatt im Büro auf Beschwerden zu warten, ziehen sie selbst durch die Straßen, um in Kontakt zu kommen.

Osman Demirci ist einer von ihnen, zuständig für die Gegend zwischen Hauptbahnhof und Rotlichtviertel. Fast alle Geschäfte hier richten sich an Touristen, es gibt kaum einen klassischen Supermarkt. »Die Betreiber wechseln ständig. Oft wissen nicht einmal die Mitarbeiter, wer der Eigentümer ist«, sagt er. Demirici ist eigentlich Immobilienmakler, zu der neuen Aufgabe ließ er sich von der Stadt überreden. Seine Arbeit sieht er als Service; er versteht sich als eine Art Sozialarbeiter für Geschäftsleute. Er will dafür sorgen, dass es hier nicht nur Shops gibt, die Zuckerwatte oder Waffeln mit Nutella verkaufen. Weniger Trash, mehr lokale Kultur und Geschäfte für Anwohner, das ist sein Plan, Grünpflanzen vor den Türen statt blinkender Werbung. »Zur Not klopfe ich dreimal und erkläre die Regeln.«

Rettung der Innenstadt: weniger Trash, mehr lokale Kultur

Rettung der Innenstadt: weniger Trash, mehr lokale Kultur

Foto: Marieke van der Velden / DER SPIEGEL

Ine Poppe und ihr Mann Sam Nemeth finden es zwar »neoliberal«, dass die Stadt auf Partnerschaften mit privaten Geldgebern setzt und Airbnb immer noch duldet. Gleichzeitig aber loben auch sie den aktuellen Kurs, der den Zusammenhalt in der Nachbarschaft fördere. »Wir müssen uns einigen und kooperieren«, sonst gehen wir alle miteinander unter, sagt Nemeth. Er fühle sich an das Poldermodel erinnert – an den Geist, mit dem die Niederländer sich einst zusammentaten und zahlreiche kleine Dämme bauten, bis es ihnen gelang, gemeinsam das stürmische Meer zurückzudrängen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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