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Neuwahlen gefordert Zehntausende Demonstranten in Israel protestieren gegen Regierung Netanyahu

In Israel zeigt sich auf den Straßen wieder massiver Widerstand gegen die Politik von Regierungschef Netanyahu: Zehntausende Menschen haben für ein Ende seiner Amtszeit und einen Geiseldeal mit der Hamas demonstriert.
Demonstrant in Tel Aviv am Samstagabend

Demonstrant in Tel Aviv am Samstagabend

Foto: Eyal Warshavsky / IMAGO

Bei Massenprotesten in Israel haben Zehntausende Menschen ein Ende der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und die Freilassung der im umkämpften Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gefordert. »Lebendig, lebendig – und nicht in Leichensäcken«, skandierten Demonstranten am Samstagabend in Tel Aviv. Viele trugen Plakate mit Friedensbotschaften für ein schnelles Ende des Gazakriegs.

Die Organisatoren sprachen nach örtlichen Medienberichten von rund 150.000 Teilnehmern. Es sei die größte Demonstration in Tel Aviv seit dem Terrorüberfall der islamistischen Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres in Israel gewesen. Auch in Jerusalem, Haifa, Beer Scheva und anderen Orten gab es Massenproteste gegen die Führung von Netanyahu. Die Menschen forderten dabei lautstark Neuwahlen.

Yuval Diskin, ehemaliger Leiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, verurteilte die Regierung bei der Kundgebung in Tel Aviv und bezeichnete Netanyahu als »den schlimmsten und am meisten gescheiterten Ministerpräsidenten in der Geschichte des Staates«, wie die ��Times of Israel« berichtete. Diskin warf der Regierung ein verfehltes Kriegsmanagement, »die Lüge vom ›totalen Sieg‹, die totale Flucht vor der Verantwortung« und die »Zerstörung unserer strategischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten« vor. Netanyahus Regierung verpasse »jede Gelegenheit zur Rückführung unserer entführten Brüder und Schwestern«.

Verteidigungsminister in den USA erwartet

Das »Wall Street Journal« hatte jüngst berichtet, dass die Zahl der noch lebenden Entführten bei nur etwa 50 liegen könnte. Nach offiziellen Angaben befinden sich noch rund 120 Geiseln in Gaza. Die Demonstranten warfen Netanyahu vor, sich den Forderungen seiner extremistischen Koalitionspartner zu beugen und eine mögliche Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln zu hintertreiben. Einige Minister sind gegen ein Abkommen mit der Hamas, da es auch eine Waffenruhe und die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus Israels Gefängnissen vorsehen würde.

Demonstrantin in Tel Aviv

Demonstrantin in Tel Aviv

Foto: Eyal Warshavsky / IMAGO

Derweil wird Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant zu Gesprächen beim wichtigsten Verbündeten USA erwartet. Er wolle von diesem Sonntag bis Dienstag in Washington mit ranghohen Vertretern des Pentagon und des US-Außenministeriums zusammentreffen, berichtete die »Jerusalem Post«. Gallants US-Reise erfolgt zu einer Zeit, in der das Verhältnis zwischen den Regierungen in Jerusalem und Washington angespannt ist. Ein Grund ist ein Video, in dem Netanyahu die US-Regierung wegen einer zurückgehaltenen Waffenlieferung mit harschen Worten angegriffen hatte.

Gewaltvorwürfe gegen Israels Polizei

Bei den Massenprotesten gegen Netanyahus Regierung in Tel Aviv kam es laut örtlichen Medienberichten am Samstagabend zu Rangeleien mit der Polizei, mehrere Personen seien festgenommen worden. Berittene Beamte hätten versucht, mit ihren Pferden einige der Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Gewalt der Polizei bei den Demonstrationen habe »alle Grenzen überschritten«, wetterte der neue Vorsitzende der oppositionellen Arbeitspartei, der frühere Vizegeneralstabschef Yair Golan, auf der Plattform X. Die Polizei dürfe nicht »zu einem Werkzeug in den Händen der korrupten und gescheiterten Regierung« werden, schrieb er. Polizeiminister ist der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir.

Demonstranten erinnern an 20. Geburtstag entführter Soldatin

Golan gilt seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober als Held im Land. Er hatte sich auf eigene Faust ins Gefahrengebiet begeben und half dort vielen Zivilisten, von einem Festival zu fliehen, das die Terroristen angriffen. Der Terrorüberfall war der Auslöser des Krieges. Bei der Kundgebung in Tel Aviv erinnerten viele Menschen an den Geburtstag einer entführten Soldatin, die am Samstag in Geiselhaft 20 Jahre alt wurde. Viele zeigten Plakate mit dem Gesicht der Israelin. Ihre Eltern forderten in einer Rede ihre Freilassung. Aufnahmen der Organisatoren zeigten die Mutter, wie sie während des Protests in Tel Aviv weinte.

Am Tag ihrer Entführung von einem Militärstützpunkt hatte die Hamas Aufnahmen verbreitet, auf denen die junge Israelin mit gefesselten Händen und blutverschmierter Hose zu sehen ist. Vor rund einem Monat wurde zudem ein Video veröffentlicht, das sie und vier weitere Soldatinnen während der Entführung verängstigt, verletzt und teilweise blutüberströmt zeigt. Die Frauen waren im Grenzgebiet zum Gazastreifen als Späherinnen der Armee im Einsatz.

Seit Monaten laufen Bemühungen der Vermittler USA, Katar und Ägypten, Israel zu einer Waffenruhe und die Hamas zur Freilassung der Verschleppten im Austausch gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen zu bewegen – bisher ohne Erfolg. Netanyahu wirft der Hamas eine unnachgiebige Haltung vor und macht sie für die Stagnation bei den indirekten Verhandlungen verantwortlich. Die Hamas wiederum verlangt einen sofortigen Waffenstillstand sowie den vollständigen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen.

ahh/dpa