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Krieg um Gaza »Die Führer der Siedler nutzen unsere Trauer und Wut aus«

Ein Gastbeitrag von Alon Sahar
Als israelischer Soldat hat er jüdische Siedlungen verteidigt. Jetzt wendet sich Alon Sahar mit einem Appell gegen Pläne der Rechten, den Gazastreifen auf Dauer zu vereinnahmen.
Räumung der Siedlung Kfar Darom 2005

Räumung der Siedlung Kfar Darom 2005

Foto: ZUMA Wire / IMAGO

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Am 22. August 2005 gehörte ich zu den Soldaten, die das Tor schlossen, als wir die Siedlung Netzarim im Gazastreifen zum letzten Mal verließen. Wir hatten dort eineinhalb Jahre lang gedient – eine Zeit, die man nur als Hölle bezeichnen kann.

Als Soldat, der zum Schutz der Siedlungen von Gush Katif – dem 21 Siedlungen umfassenden Hauptsiedlungsblock im Gazastreifen – abgestellt war, habe ich aus erster Hand gesehen und erfahren, welchen Preis man bezahlt, wenn man an isolierten Enklaven inmitten einer feindlichen Umgebung festhält.

Ich habe Freunde verloren, als Hamas-Kämpfer in unsere militärischen Außenposten eindrangen. Ich trampte bei Siedlermüttern, die auf dem Heimweg mit ihren Kindern auf dem Rücksitz mit 150 km/h rasten, um nicht beschossen zu werden. Damals, an jenem Sommertag im Jahr 2005, glaubte ich, dass ich all das hinter mir lassen würde.

Jetzt tut die israelische Siedler-Rechte und ihre falschen Propheten alles in ihrer Macht Stehende, um die Pforten zur Hölle wieder zu öffnen. Jüngsten Umfragen zufolge haben sie die Unterstützung von mindestens 25 Prozent der israelischen Öffentlichkeit.

Als Filmemacher und Aktivist gegen die Besatzung habe ich die vergangenen zehn Jahre meiner Karriere damit verbracht, das moralische Empfinden der Israelis anzusprechen, indem ich die tiefen Ungerechtigkeiten aufgezeigt habe, die Palästinenser jeden Tag ertragen müssen. Ich hatte gehofft, dass meine Landsleute durch die Erweckung von Empathie erkennen würden, dass eine andauernde Besatzung – die zu unsäglichem menschlichem Leid führt – nicht der richtige Weg ist.

Jetzt, in der neuen und entsetzlichen Realität nach dem 7. Oktober, scheint es, dass in der israelischen Gesellschaft kein Platz mehr für Empathie ist. Deshalb ist es an der Zeit, die Kehrseite der Medaille aufzuzeigen: den schrecklichen Preis, den wir als Israelis für die Politik der Herrschaft über andere Menschen zahlen. Es geht nicht nur um die Palästinenser, es geht auch um uns.

Als ehemaliger Besatzungssoldat haben meine Kameraden und ich das volle Gewicht dieses Preises im Gazastreifen zu spüren bekommen. Wir haben die Pflicht, unsere Stimme zu erheben, wenn in Israel die Rufe nach einer Wiederbesiedlung des Gazastreifens lauter werden. Diejenigen, die sich weigern, die Menschlichkeit der Palästinenser zu sehen, schulden es zumindest uns, den Soldaten, die ihre Siedlungen beschützt haben, zuzuhören. Sie müssen wissen, was wir geopfert haben, bevor sie uns dorthin zurückschleppen.

»Die Siedler-Rechten bezeichnen diese Siedlungen oft als »Schutzwesten des Landes«. Aber in Wirklichkeit waren wir, die Soldaten, ihre Schutzwesten.«

Alon Sahar

Die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober, mit denen unsere schlimmsten Albträume Wirklichkeit wurden, haben jeden Israeli, mich eingeschlossen, in tiefe Trauer versetzt. Jetzt nutzen die Führer der Siedler unsere Trauer und Wut aus, um die irrsinnige Idee der Besiedlung dessen, was sie als Teil ihres biblischen Geburtsrechts betrachten, zu propagieren, während sie die alte Parteilinie nachplappern, dass Siedlungen eine Sicherheitsnotwendigkeit sind.

Minister Ben-Gvir

Minister Ben-Gvir

Foto:

Amir Levy / Getty Images

Eine Einladung zu einer rechtsgerichteten Kundgebung, die Anfang November die Wiedererrichtung israelischer Siedlungen im Gazastreifen forderte, zeigte ein Bild von zwei unbeschwerten Mädchen an einem leeren Strand. In Wirklichkeit sieht man, wenn man herauszoomt, ein blutgetränktes Land, das in Feuer und Rauch gehüllt ist.

Tausende von Betonbarrieren und Zäunen trennten diese Mädchen von den Menschen, die die israelische Zivilpräsenz im Gazastreifen mit ihrem Leben bezahlten – vor allem die Palästinenser in den umliegenden Flüchtlingslagern, die in von Einschüssen durchlöcherten Häusern leben; aber auch wir, die Soldaten, die zum Schutz der Siedlungen abgestellt wurden.

»Ich habe das Grauen von Gush Katif am eigenen Leib erfahren«

Diese Begeisterung für die messianische Erlösung, die sich die rechten Siedler so sehr wünschen, und der unvermeidliche menschliche Preis, der dafür zu zahlen ist, wird nur diejenigen überraschen, die beim letzten Mal nicht dabei waren. Aber ich habe das Grauen von Gush Katif am eigenen Leib erfahren. Ich erinnere mich.

Die Siedler-Rechten bezeichnen diese Siedlungen oft als »Schutzwesten des Landes«. Aber in Wirklichkeit waren wir, die Soldaten, ihre Schutzwesten. Es gab nichts, was wir den Palästinensern nicht angetan hätten, um die Sicherheit der Siedlungen zu gewährleisten: Wir führten Dutzende von Operationen mitten in ihren belebten Wohnvierteln durch.

Wir sind in ihre Häuser eingedrungen und haben sie in Militärposten verwandelt. Wir zerstörten ihre Grundstücke und Obstgärten rund um die Siedlungen, um Pufferzonen zu schaffen. Wenn es eine Wahl zwischen der Beeinträchtigung des Lebens der Palästinenser oder der Bequemlichkeit der Siedler gab, war klar, wie wir entscheiden würden.

Zerstörungen in Al Nusairat im Gazastreifen

Zerstörungen in Al Nusairat im Gazastreifen

Foto: Mohammed Saber / EPA

Die Hamas war bereits im Gazastreifen präsent, lange bevor Israel seine Siedlungen zerstörte und seine Streitkräfte 2005 abzog. Es gab Raketen, Mörsergranaten, Sprengfallen am Straßenrand und Tunnel wie den, aus dem die Hamas 2005 den IDF-Außenposten Orhan in die Luft sprengte. Raketen- und Granatenbeschuss waren an der Tagesordnung, aber sie waren nur ein Teil der Geschichte.

Nicht jeder Soldat hat neun Leben, aber ich offenbar schon. Einmal wurde ich auf dem Weg zur Toilette beschossen, als ich mich zwischen einem gepanzerten Fahrzeug und einem Militärposten bewegte. Ein anderes Mal wurde eine Panzerfaust auf mich abgefeuert, während ich bei einem unserer Einsätze in einem Fahrzeug saß. Glücklicherweise verfehlte sie mich. Ich stand direkt neben einer Sprengfalle, als Granaten auf mich geworfen wurden, die aber irgendwie nicht explodierten.

Einmal, als ich gerade einen Hamas-Aktivisten verhaften wollte, sprengte er sich neben einem Beamten des Schin Bet (Israelischer Inlandsgeheimdienst) in die Luft. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mit Stücken seines Fleisches bedeckt war und meine Ohren von der ohrenbetäubenden Explosion klingelten. Ich begann mich zu fragen, wofür zum Teufel ich mein Leben riskierte.

»Die israelische Öffentlichkeit hat sich schon zu lange von messianischen Ideen korrumpieren lassen«

Heute spricht die messianische Rechte Israels offen und freimütig über ihre Bestrebungen. Der Knesset-Abgeordnete Simcha Rothman, einer der Architekten der Justizreform des vergangenen Jahres, sagte, wir wüssten, dass wir gewonnen haben, »wenn ein jüdisches Kind in Gaza spazieren gehen kann, ohne um sein Leben zu fürchten«. Finanzminister Bezalel Smotrich, der auch Minister im Verteidigungsministerium ist, spricht offen über eine längere israelische Kontrolle des Gazastreifens.

Man darf sich nicht täuschen lassen: Wenn wir nicht aufpassen, wird es passieren. Wie viele wissen, dass die Knesset Anfang dieses Jahres das Rückzugsgesetz im nördlichen Westjordanland aufgehoben und damit den Weg für die Rückkehr von Siedlern in zuvor geräumte Gebiete geebnet hat? Dieselben Gesetzgeber, die diesen Gesetzentwurf einbrachten, haben vor Kurzem auch einen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Rückzugsgesetzes aus dem Gazastreifen vorgelegt.

Zuerst wird man uns sagen, es sei »nur eine Sicherheitszone«, und dann wird dort ein Siedler-Außenposten entstehen. Er wird wahrscheinlich nach einer der dezimierten Kibbuz-Gemeinden in der Nähe der Grenze zu Gaza benannt werden. Kurze Zeit später werden wir erfahren, dass das Militär für die Sicherheit sorgt und dass es bereits Satelliten-Außenposten in der Umgebung gibt.

Wir können es uns nicht erlauben, die Frage zu umgehen, was nach dem Krieg geschieht. Wir müssen über unsere Vision für ein freies, sicheres und nachhaltiges Leben hier sowohl für Palästinenser als auch für Israelis nachdenken. Die israelische Öffentlichkeit hat sich schon zu lange von messianischen Ideen korrumpieren lassen, unter dem Vorwand, die Siedlungen seien für die Sicherheit unerlässlich. Das dürfen wir nicht glauben.

»Wir brauchen einen echten politischen Prozess zwischen Israel und dem palästinensischen Volk.«

Die Siedlungen haben Israel nicht geschützt – wir als Soldaten haben die Siedlungen beschützt, immer auf Kosten der Palästinenser. Der Traum der Siedler war unser Albtraum. Das darf sich nicht wiederholen.

Die Realität, die zu dem mörderischen Angriff der Hamas und dem schrecklichen Krieg geführt hat, ist die Realität vor dem 7. Oktober – eine Realität der Besatzung, des blutigen Konflikts, der erstickenden Belagerung im Gazastreifen und der schleichenden Annexion im Westjordanland. Der einzige Weg zu echtem Frieden und Sicherheit für beide Völker führt nicht zurück in die Realität des 7. Oktober. Wir brauchen einen echten politischen Prozess zwischen Israel und dem palästinensischen Volk in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft und den Völkern der Region.

Die schreckliche Tragödie des gegenwärtigen Kriegs kann in eine Chance für den Frieden verwandelt werden. Wir sollten jetzt einen pragmatischen Plan annehmen, der sich auf die bestehende Realität bezieht, dieselbe Realität, die hätte vermieden werden können, wenn sich die israelische Regierung schon vor Jahren für den Abzug der Besatzung und die Gründung eines palästinensischen Staates eingesetzt hätte. Dieser Plan kann jedoch nur umgesetzt werden, wenn die extrem rechte Regierung abgelöst wird.

Wir brauchen als Erstes einen sofortigen Waffenstillstand, gefolgt vom Austausch von Geiseln und Gefangenen – alle für alle. Dieser vertrauensbildende Schritt würde beiden Nationen einen Horizont der Hoffnung eröffnen.

Diejenigen, die entscheiden müssen, wer in Gaza regieren wird, sind die Palästinenser. Ausgehend von dieser Realität sollten am Ende des Prozesses freie und demokratische Wahlen in allen palästinensischen Gebieten stehen – im Gazastreifen und im Westjordanland. Um die Sicherheit der Bewohner des Gazastreifens und des südlichen Israels zu gewährleisten und den Gazastreifen wieder aufbauen zu können, muss eine internationale Koalition aus verschiedenen Ländern gebildet werden. Unter der Schirmherrschaft der Uno sollte diese Koalition als Grenzpuffer zwischen Israel und den Bewohnern des Gazastreifens fungieren. Sie sollte verhindern, dass von Gaza auf Israel und andersherum geschossen wird. Und sie sollte den Gazastreifen von der humanitären Katastrophe, in der er sich befindet, befreien.

Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen sind Diskussionen über die genaue Dauerlösung legitim, solange beide Parteien zustimmen. Ich glaube an das von »Ein Land für alle« propagierte Modell einer Zweistaaten-Konföderation, das beide bedrohten Minderheiten berücksichtigt, die jüdisch-israelische als globale Minderheit und die Palästinenser als lokale Minderheit. Beide haben Platz und genügend historische und moralische Gründe, um dort sicher zu bleiben.