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Santy und seine Ziege Mamachola mitten im Familienalltag: Das Tier ernährte den Jungen als Kleinkind mit seiner Milch

Santy und seine Ziege Mamachola mitten im Familienalltag: Das Tier ernährte den Jungen als Kleinkind mit seiner Milch

Foto: Irina Werning

Fotoprojekt in Argentinien Die ungewöhnliche Freundschaft von Santy und seiner Ziege Mamachola

Seit vielen Jahren reist die Fotografin Irina Werning durch Argentinien. In einem abgelegenen indigenen Dorf lernte sie einen Jungen und seine beste Freundin kennen: eine Ziege.

In einem kleinen Ort im Nordwesten Argentiniens, mitten in den Bergen, entstand vor sieben Jahren eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen Mensch und Tier, über die das Dorf bis heute staunt. Dies ist die Geschichte von dem kleinen Jungen Santy und seiner Ziege.

Das Dorf heißt Iruya. Es leben dort etwa tausend Menschen, sie gehören der größten indigenen Volksgruppe in Argentinien an: den Kolla. Um ihren Ort zu erreichen, der auf fast 3000 Metern Höhe liegt, geht es stundenlang über unbefestigte Bergstraßen, in der Regenzeit zwischen Dezember und März kann man die Gegend, in der Santy lebt, aufgrund der schlammigen Wege oft gar nicht erreichen. Heute ist er acht Jahre alt.

Die argentinische Fotografin Irina Werning hat ihn und seine Familie im vergangenen April eine Weile begleitet. Werning kennt das Dorf seit Langem, schon aus früheren Fotoprojekten .

Als Santy ein Jahr alt wurde, beendete seine Mutter das Stillen. Kurz darauf bemerkte die Familie, dass ihr Sohn eine Unverträglichkeit auf Kuhmilch zeigte: Er bekam starke Schmerzen und Durchfall. »Doch ein Kind ohne Milch großzuziehen, ist bei den Indigenen in Iruya undenkbar«, sagt Fotografin Werning. »Die Menschen glauben, dass die Milch ihre Kinder stark und gesund macht. Milch ist für sie das Wichtigste überhaupt.«

Die Eltern probierten vieles, um die Kuhmilch zu ersetzen, und landeten am Ende bei Ziegenmilch: Die vertrug ihr Sohn, und die mochte er. Also schaffte die Familie eine Ziege an. Auch sie damals: ein Jahr alt, genau wie Santy.

Eine Ziege als Familienmitglied: Der kleine Santy mit Mutter Sonia, Vater Ceasar und Mamachola – und dem Haushund

Eine Ziege als Familienmitglied: Der kleine Santy mit Mutter Sonia, Vater Ceasar und Mamachola – und dem Haushund

Foto: Irina Werning

Santy nannte die Ziege Mamachola. Das heißt so viel wie »Mutter«, denn das Tier ist für ihn so was wie seine Retterin. Sie versorgt ihn mit dem, was ihn am Leben hält. »Die Ziege bekam einen festen Platz in der Familie, fast wie ein Mensch«, sagt Werning.

Santy trinkt noch heute die Milch seiner Ziegenfreundin. Kuhmilch verträgt er weiter nicht

Santy trinkt noch heute die Milch seiner Ziegenfreundin. Kuhmilch verträgt er weiter nicht

Foto: Irina Werning

Wie sehr das Tier ins Familienleben eingebunden ist, erlebte die Fotografin vor Ort. Die Ziege habe Santy gegenüber einen großen Beschützerinstinkt. Komme man dem Jungen zu nahe, dränge sich Mamachola manchmal vor Santy, um ihn vor Gefahren zu bewahren. »Die beiden spielen miteinander und passen aufeinander auf. Jeden Tag nach der Schule holt Santy seine Ziege beim Stall ab und führt sie auf die Wiesen, wo das grüne Gras wächst.«

Die Ziege darf auch mit Santys anderen Freunden spielen; alle mögen das Tier, hier an der Leine wie ein Hund

Die Ziege darf auch mit Santys anderen Freunden spielen; alle mögen das Tier, hier an der Leine wie ein Hund

Foto: Irina Werning
Wenn die Leute im Dorf Santy und die Ziege sehen, grüßen sie die beiden ungewöhnlichen Freunde: »Hi Mamachola, wie geht es dir?«

Wenn die Leute im Dorf Santy und die Ziege sehen, grüßen sie die beiden ungewöhnlichen Freunde: »Hi Mamachola, wie geht es dir?«

Foto: [M] DER SPIEGEL: Irina Werning
Santy dekoriert gern mit Steinen. Manchmal auch die Ziege

Santy dekoriert gern mit Steinen. Manchmal auch die Ziege

Foto: Irina Werning

Es ist nichts Ungewöhnliches in dem Dorf, dass Tiere und Menschen eng beieinander leben. Fast alle Haushalte halten Nutztiere. »Wie in vielen indigenen Gemeinden spielt die Natur dort eine große Rolle«, sagt Irina. »Die Menschen sind über eine lange Zeit direkt von ihren Ressourcen abhängig gewesen. Also gehen sie respektvoll mit ihnen um, auch mit Tieren.« Eine so enge, liebevolle Beziehung wie die zwischen Mamachola und Santy jedoch sei auch in Iruya etwas Besonderes.

Bild von Santys Familie in einem selbst gebastelten Rahmen: inklusive Ziege

Bild von Santys Familie in einem selbst gebastelten Rahmen: inklusive Ziege

Foto: Irina Werning
Iruya ist ein kleines Bergdorf im Norden Argentiniens, in dem Indigene leben. Die Fotografin Irina Werning kennt den Ort seit Langem – auch Santys Familie

Iruya ist ein kleines Bergdorf im Norden Argentiniens, in dem Indigene leben. Die Fotografin Irina Werning kennt den Ort seit Langem – auch Santys Familie

Foto: Irina Werning

In Argentinien leben 25 unterschiedliche indigene Volksgruppen mit ihren eigenen, teils uralten Traditionen. Die Gruppe der Kolla wanderte ursprünglich aus Bolivien und Chile in die Berge der argentinischen Provinz Salta ein. Jahrzehnte verbrachten die Kolla dort in kleinen Gemeinden recht abgeschieden als Selbstversorger und in Symbiose mit der Natur. Sie bauen Kartoffeln an, Mais und Quinoa. Das nächste Krankenhaus liegt weit entfernt.

Inzwischen vollziehe sich aber ein großer Wandel in Iruya, sagt die Fotografin, die zum ersten Mal 2006 in das Dorf kam. »Als die ersten Smartphones in den Ort kamen, begannen sich die Leute dasselbe zu wünschen, was die Menschen in den großen Städten haben«, sagt Werning. »Sie wollen nicht mehr so leben wir früher.« Viele zögen weg. Die Gemeinde schrumpfe. Es fehlten junge Leute.

Gehen oder bleiben? Für solche Zukunftsfragen ist Santy noch zu jung. Doch es gibt eine andere Frage, die momentan drängender scheint: Was geschieht, wenn Santys Ziege einmal stirbt? Auf die Milch des Tieres ist er nicht mehr angewiesen, auch wenn er sie weiter gern trinkt. Auf die Freundschaft aber schon.

Mamachola brachte dem Jungen das Klettern bei

Mamachola brachte dem Jungen das Klettern bei

Foto: Irina Werning

Ziegen, das habe man Werning in Iruya erzählt, seien zäh. Als Nutztiere werden sie etwa acht Jahre alt. Bei guter Pflege wiederum, so wie im Fall von Mamachola, können sie bis zu 18 Jahre alt werden. Der Junge und seine Ziege, die beiden besten Freunde, könnten also tatsächlich gemeinsam erwachsen werden.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.