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Hitze und Trockenheit in Brasilien Wie der Klimawandel das Leben am Amazonas verändert

Die Flusspegel am Amazonas fielen 2023 auf historisch niedrige Stände. Dörfer wurden isoliert, Delfine starben, Fische vertrugen das viel zu warme Wasser nicht. Menschen sorgen sich um die Zukunft. Ein Besuch.
Von Daniel Grossman, Dado Galdieri (Fotos) und Patrick Vanier (Videos)
Der Rio Solimões in der Nähe von Tefé – die extreme Dürre in der Region setzt dem Fluss zu, er ist zu großen Teilen ausgetrocknet

Der Rio Solimões in der Nähe von Tefé – die extreme Dürre in der Region setzt dem Fluss zu, er ist zu großen Teilen ausgetrocknet

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

An einem Morgen im Oktober 2023 steht Jochen Schöngart an einem Felsvorsprung am Rande des Amazonasflusses, nur eine kurze Fahrt mit dem Wassertaxi von Manaus im Nordwesten Brasiliens entfernt. Mit schweißgebadeter Stirn blickt er in Gesichter, die vor vermutlich 2000 Jahren in Stein gemeißelt wurden.

Steinritzungen an einer felsigen Stelle des Amazonas: Freigelegt durch Dürre in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas in Brasilien

Steinritzungen an einer felsigen Stelle des Amazonas: Freigelegt durch Dürre in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas in Brasilien

Foto: Suamy Beydoun / REUTERS

Der spektakuläre Fund aus vorkolonialer Zeit ist eine Folge extremer Dürre. Forscher sagen, dass die Bedingungen dafür als Folge des Klimawandels immer häufiger vorkommen werden und einen Hinweis liefern könnten auf das, was noch kommen wird. Denn was sonst unter der Wasseroberfläche verborgen liegt, wurde durch den für die Trockenzeit außergewöhnlich niedrigen Pegelstand des Amazonas sichtbar.

Brasilien ächzte vergangenes Jahr unter starken Hitze- und Dürreperioden. Im Oktober 2023 erreichte der Rio Negro, der zweitgrößte Nebenfluss des Amazonas, im Hafen von Manaus den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1902. Statt eines halben Meters fielen hier nur wenige Millimeter Regen.

Das hatte Folgen für die Menschen vor Ort: Im gesamten brasilianischen Amazonasgebiet haben niedrige Flusspegel dazu geführt, dass Hunderte von Flussgemeinden isoliert wurden. Frachtschiffe, die Hauptversorgungsquelle von Manaus, konnten aufgrund der Untiefen im Amazonas nicht mehr weiterfahren. Fabriken beurlaubten Arbeiter, Fische starben in Massen und auch der Zugang zu Trinkwasser war an einigen Orten nicht mehr gesichert.

Einer der Zuflüsse zum Lago Tefé – von dem Wasser ist nicht mehr viel übrig, zurück bleiben Sandbänke

Einer der Zuflüsse zum Lago Tefé – von dem Wasser ist nicht mehr viel übrig, zurück bleiben Sandbänke

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Hitze und Dürre – damit sind noch nicht alle Probleme beschrieben. Jochen Schöngart, Forstwissenschaftler am Nationalen Institut für Amazonasforschung (INPA) und seine Mitarbeiter beobachten den Fluss schon länger. Seit Jahrzehnten sinkt das Niedrigwasser in der Trockenzeit, während das Hochwasser in der Regenzeit steigt. »Wir erleben massive Veränderungen im Wasserkreislauf des Amazonasbeckens«, sagt Schöngart. Die globale Klimaerwärmung könnte das verstärken. Die Frage sei nun, ob sich Ökosysteme und Menschen anpassen können.

Diese Stelzenhäuser in Tefé stehen normalerweise unmittelbar in der Nähe des Tefé-Sees. Doch die Rekorddürre 2023 sorgte dafür, dass der Wasserstand um 6,5 Meter unter den üblichen Wert gesunken ist

Diese Stelzenhäuser in Tefé stehen normalerweise unmittelbar in der Nähe des Tefé-Sees. Doch die Rekorddürre 2023 sorgte dafür, dass der Wasserstand um 6,5 Meter unter den üblichen Wert gesunken ist

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Unterwegs mit Ayan Fleischmann in Tefé, rund 600 Kilometer flussaufwärts von Manaus, in einer Region, die mit am stärksten von der Dürre betroffen ist. Das Boot steuert auf etwas zu, das wie ein Überbleibsel eines Zaunpfahls aussieht, der schräg aus dem Wasser ragt. Kaum jemand würde vermuten, dass es sich hierbei um eine Temperaturmessstation handelt. Das sei Absicht, sagt der Hydrologe am Mamirauá-Institut für nachhaltige Entwicklung. »Wir haben es an eine solche Stange gehängt, damit es niemand für wichtig hält«, erzählt Fleischmann und grinst. Andernfalls könnte das Sammeln der wichtigen Daten gestört werden, indem die Messstation etwa aus Neugierde aus dem Wasser gezogen oder gestohlen wird.

Hydrologe Ayan Fleischmann kontrolliert einen Wasserstandsmessgerät im Lago Tefé

Hydrologe Ayan Fleischmann kontrolliert einen Wasserstandsmessgerät im Lago Tefé

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media
Zwei Mädchen spielen im Wasser des Rio Solimões, in der Nähe von Porto Praia. Der Fluss ist fast vollständig ausgetrocknet

Zwei Mädchen spielen im Wasser des Rio Solimões, in der Nähe von Porto Praia. Der Fluss ist fast vollständig ausgetrocknet

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Unweit von hier stehen am Ufer mehrere Wissenschaftlerinnen in Schutzanzügen, sie tragen Gummihandschuhe und Masken. Der Gestank von verwestem Fleisch macht sich breit: Auf dem Tisch liegt ein weibliches Tucuxi (Sotalia fluviatilis), eine Süßwasserdelfinart, die hier lebt.

In dem provisorisch aufgebauten Zelt steht Mariana Lobato, die gerade mit einem Skalpell den Unterleib des Delfins aufschneidet. »Wir messen das Fett«, erklärt sie und zeigt auf eine cremefarbene Schicht, die so dick ist wie ihr Daumen. Das reichlich vorhandene Fett deute darauf hin, dass dieser Tucuxi nicht verhungert sei.

DER SPIEGEL

Mehr als 200 tote Delfine, etwa 15 Prozent der Population des Lago Tefé, wurden im Oktober und Herbst 2023 in dem See entdeckt. »Das war etwas, was wir nie erwartet hätten. Das hat mich wirklich hart getroffen«, erzählt Miriam Marmontel, die am Mamirauá-Institut für nachhaltige Entwicklung die Forschungsgruppe für Meeressäuger leitet. Hinweise auf eine Infektionskrankheit oder ein Toxin fanden sie und ihr Team nicht.

Vielmehr sehen die Forscherinnen einen Zusammenhang mit der Hitzewelle. »Wir glauben, dass der Klimawandel der Hauptschuldige ist«, sagt Marmontel. Das mache ihr Sorgen, denn es sei das einzige Szenario, für das es keine lokale Lösung gebe.

Die Delfine werden nach der Obduktion beerdigt

Die Delfine werden nach der Obduktion beerdigt

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Die Hitze hatte während der vergangenen Trockenzeit zu einem starken Anstieg der Wassertemperaturen geführt. Im Lago Tefé wurde noch keine Temperatur von mehr als 33 °C gemessen. Ende September stieg sie auf 40 °C, vermutlich zu hoch für die Süßwasserdelfine.

Auch für Fische werden die hohen Wassertemperaturen zum Problem. Ein Forschungsteam des INPA  hat herausgefunden, dass Fische aus dem Amazonasgebiet Temperaturen von mehr als 35 bis 37 Grad nicht vertragen können. »Ein zusätzliches Grad mag nicht viel erscheinen, aber macht einen großen Unterschied«, erklärt Alexandre Pucci Hercos, Leiter der Gruppe für Fischbiologie in Mamirauá. Die Folge: Einige Fischarten sterben, andere wandern ab.

Manaus und Tefé liegen mitten im Amazonasgebiet, der Amazonas und seine Nebenflüsse bilden für viele der dort lebenden Menschen eine Lebensgrundlage. Doch welche Folgen hat es, wenn Wasserpegel den niedrigsten Stand seit Beginn der Messungen aufweisen, Flüsse vollständig austrocknen oder so stark über die Ufer treten, dass sogar ganze Dörfer und Wälder über längere Zeit überschwemmt werden?

»Wenn die Dürre anhält, befürchten wir, dass uns die Nahrung ausgeht«, sagt Márcio da Silva Santos, der Tuxaua, Häuptling des indigenen Dorfes Betel.

Vanuza de Barros Gomes hält ein Fischernetz, das von Delfinen aufgerissen wurde

Vanuza de Barros Gomes hält ein Fischernetz, das von Delfinen aufgerissen wurde

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media
Nahrungsknappheit im Amazonas: Der Konkurrenzkampf um die Fischbeute wird größer

Nahrungsknappheit im Amazonas: Der Konkurrenzkampf um die Fischbeute wird größer

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Betel liegt direkt am Amazonasfluss. Doch darin zu angeln, hat Santos in dieser Saison aufgegeben. Zu groß sei die Konkurrenz durch kommerzielle Fischer, die zuvor im Lago Tefé auf Fischfang waren. Das Wasser dort ist zu warm geworden und Delfine, die wegen des niedrigen Wasserstandes weniger Reviere haben, reißen ihre Fischernetze auf, um an die Beute zu gelangen.

Pacu, Piranha und Curimatã stehen auf der Fangwunschliste seines Kambeba-Stamms. Doch bevor die Fischer ihre Netze auswerfen können, liegt inzwischen ein langer Weg vor ihnen. Sie tragen ihr handgefertigtes Holzkanu 130 Stufen aus Beton und festgestampfter Erde zum Amazonas hinab, transportieren es auf einem Motorboot zum gegenüberliegenden Flussufer und schleppen es durch den Dschungel, bis sie einen kleinen See erreichen.

Noch härter getroffen hat es das indigene Dorf Porto Praia, flussabwärts von Betel gelegen. In dieser Gegend trocknete der Amazonasfluss im September vergangenen Jahres aus. Zurückgeblieben sind meterhohe Sanddünen. Ayan Fleischmann vom Mamirauá-Institut für nachhaltige Entwicklung nennt solche Flussabschnitte, die entstanden sind, die »Sahara am Amazonas«.

DER SPIEGEL

Ihre Entstehung ist auf niederschlagsärmere Trockenzeiten und feuchtere Regenzeiten zurückzuführen. In den Quellgebieten sorgen extreme Regenfälle dafür, dass die Flussufer erodieren. Die abgetragene Erde wird so lange vom Fluss mitgenommen, bis seine Strömung nachlässt – wie hier vor Porto Praia.

Für die Dorfbewohner hat das ausgetrocknete Flussbett gravierende Folgen. Die einzige Möglichkeit, mit dem Boot Porto Praia schnell zu erreichen, entfällt. Die Dorfschule ist geschlossen, für die pendelnden Lehrer aus Tefé ist der Fußweg zu weit. Weil es zu anstrengend ist, die Fischausrüstung tagsüber in der Hitze über die Dünen zu schleppen, muss nachts geangelt werden.

Die Bewohner von Porto Praia müssen nachts fischen. Tagsüber ist es zu heiß – und zu anstrengend

Die Bewohner von Porto Praia müssen nachts fischen. Tagsüber ist es zu heiß – und zu anstrengend

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media
Der Fang in dieser Nacht: Leopard-Segelschilderwelse (Pterygoplichthys pardalis), die im Amazonasbecken heimisch sind

Der Fang in dieser Nacht: Leopard-Segelschilderwelse (Pterygoplichthys pardalis), die im Amazonasbecken heimisch sind

Foto: Dado Galdieri / Hilaea Media

Eine kürzlich von der World Weather Attribution veröffentlichte Studie  zeigt, dass gerade ohnehin gefährdete Bevölkerungsgruppen überproportional von der Dürre betroffen waren. Dazu zählen Kleinbauern sowie indigene Gemeinschaften, die besonders auf die Verfügbarkeit von Süßwasser für ihre Nahrungsmittelproduktion und den Transport von Gütern über Flüsse angewiesen sind.

Die Klimaforscher haben zudem berechnet, dass der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit von so geringen Niederschlägen wie im Amazonasbecken im Jahr 2023 um den Faktor zehn erhöht hat.

Der Tuxaua von Betel, Márcio da Silva Santos, lädt die Reporter zum Abschied zum Essen ein. Er erzählt, dass er sich um die nächste Trockenphase, um die Zukunft allgemein sorgt, während er einen Jaraqui, ein Fisch so groß wie ein Essteller, aufspießt und über das Feuer hält.

Dolmetscherin Diana Mayra Köhler kennt ein indigenes Sprichwort: »Comeu jaraqui, não sai mais daqui«, übersetzt: »Wenn du einmal Jaraqui gegessen hast, willst du nie wieder von hier weggehen.«

Santos würde nie hier wegziehen wollen, das Leben seiner Vorfahren aufgeben. Doch womöglich könne es bald zu Konflikten mit anderen Dörfern über den Fischfang kommen, befürchtet er. »Das ist eine schwierige Situation für uns.«

Eine Version der Reportage erschien zuerst im Wissenschaftsmagazin »Science« , kofinanziert durch das Pulitzer Center.

Übersetzung und Redaktion: Fabius Leibrock

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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